Als „Kriegszitterer“ wurden durch den Ersten Weltkrieg traumatisierte Soldaten bezeichnet. Bei den meisten trat unkontrolliertes Zittern auf. Die damaligen Ärzte stellten bei traumatisierten Soldaten verschiedene Symptome fest und fassten diese unter der Diagnose „Kriegszittern“ zusammen. Diese Symptome waren unter anderem folgende:
- Angstattacken (teils beim Anblick alltäglicher Gegenstände)
- Lähmungen und Lähmungserscheinungen
- Schlafstörungen
- Sich nicht mehr auf den Beinen halten können
- Sprachstörungen
- Stottern
- Stummheit
- unfähig eine Waffe zu halten
- unkontrollierbares Zittern
- Verweigung der Nahrungsaufnahme / Appetitverlust
- Verlust der Kontrolle über Blase / Stuhl nicht mehr halten können
Nach Schätzungen sollen in Deutschland bis zu 300.000 Soldaten vom „Kriegszittern“ betroffen gewesen sein.
Andere Begriffe für „Kriegszittern“ sind
- Granatschock
- Kriegsneurose
- Kriegstrauma
Der englische Ausdruck für „Kriegszittern“ ist „Shell shock“ – auf deutsch: Granatschock. Ein US-amerikanischer Begriff ist „Bomb Shell Disease“. Die französische Bezeichnung ist „Obusite“. („Obus“ bedeutet Granate; „-ite“ als Endnung steht für eine Erkrankung. (vergleichbar mit -„itus“, wie bei „Tinnitus“.))
Kriegszittern = Posttraumatische Belastungsstörung
Heute wird das „Kriegszittern“ als eine Form der posttraumatischen Belastungsstörung klassifiziert. 1980 wurde die Posttraumatische Belastungsstörung als offizielle Krankheit in der ICD aufgenommen. In der ICD-10 wird sie unter Punkt F43.1 posttraumatischen Belastungsstörung geführt.
Wie entstand das Kriegszittern?
Das Kriegszittern ist eine Reaktion auf die psychische Überbelastung durch die Erlebnisse in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges. Damals wurden neue und hochtechnisierte Formen der Kriegsführung angewendet. Flugzeuge warfen Bomben ab und die Artillerie feuerte (unglaublich viele) Granaten (Sprengkörper) auf feindliche Schützengräben. Viele Soldaten reagierten mit Angst, einige verfielen in Panik und wollten fliehen. Doch sie mussten die feindlichen Bombardements aushalten, in ihren Schützengräben ausharren und zusehen, wie andere Soldaten starben. Dieser Kampf gegen die innere Angst und Panik, Schlafmangel und Bewegungsmangel führten dazu, dass viele Soldaten schnell an psychischer Leistungsfähigkeit abbauten und erkrankten. Die Soldaten waren nicht auf den Stress des Krieges vorbereitet. Keine Kriegspartei konnte einschätzen, was auf sie drauf zukommt.
Ärzte gingen damals davon aus, dass das Kriegszittern – auch Granatschock genannt – durch die Einschläge von Granaten, der ausgelösten Schockwelle und den lauten Explosionsgeräuschen ausgelöst wurden. Dabei vermuteten die Ärzte, dass das Gehirn eine Erschütterung erlitt oder das Gehirn an die Schädelwand gedrückt wurde, was zu einer Beschädigung führte.
Heilung für das Kriegszittern gab es damals kaum, da Ärzte vermuteten, dass das Kriegszittern einen mechanischen Ursprung hatte und da geeignete Therapien fehlten.
Vom „Kriegszittern“ betroffene Soldaten mussten teils sogar damit rechnen, dass sie als Kriegsdienstverweigerer wahrgenommen werden und ihnen die Erschießung droht.
Wie reagierten damals die Ärzte auf traumatisierte Soldaten?
Die damaligen Ärzte reagierten mit wenig bis gar keinem Verständnis für Soldaten, die unter „Kriegszittern“ litten. Es war sogar viel schlimmer: Während des Krieges unterstellten Ärzte traumatisierten Soldaten, dass sie Versager, Drückeberger oder Simulanten seien. Sie unterstellten den Soldaten, dass sie schnell nach Hause wollen und keinem Willen haben für ihr Vaterland zu kämpfen. Sie behaupteten, dass es den Soldaten an Patriotismus mangele. Teils wurde den Soldaten auch vorgeworfen, dass sie an Hysterie litten. (Hysterie war damals eine Krankheit, die nur Frauen bekommen konnten, was viele Soldaten als Herabsetzung und Herabwürdigung wahrnahmen.)
Ärzte, die an die Front gerufen wurden, um traumatisierte Soldaten zu heilen, setzen dabei auf Methoden, die dazu dienten, den Willen des Soldaten zu brechen, um sie zu wieder einsetzbar für den Kampf zu machen.
Die Behandlungsmethoden für „Kriegszittern“ rangierten von harmlos (Hypnose) bis zu äußerst aggressiv (stundenlange Elektroschocks). Folgende Methoden wurden angewendet:
- Anschreien
- Drohungen
- Elektrotherapie / Elektroschocktherapie (teils am ganzen Körper, auch den Genitalien; diese „Therapien“ dauerten teils viele Stunden.)
- Erstickungsangst künstlich hervorrufen, um Stummheit aufzulösen
- Hypnose
- Isolation
- Röntgenbestrahlung
- Scheinoperationen unter Narkose
- Zwangsexerzieren
Über die Methoden der Ärzte
Das Ziel der Methoden der damaligen Ärzte lässt sich wie folgt zusammenfassen: Angst und die traumatischen Erlebnisse sollte den Soldaten ausgetrieben werden. Sie sollten nicht lernen damit umzugehen.
Anstatt, dass der Krieg als Ursache für die psychischen Erkrankungen betrachtet wurde, wurde den Soldaten psychische Schwäche und Minderwertigkeit vorgeworfen.
Damals war die Gruppe wichtiger als das Individuum. Das führte dazu, dass nicht individuell auf Soldaten eingegangen wurde, sondern Kollektiv-Maßnahmen wie mehr Disziplin oder Drill angewendet wurden.
Die Behandlungen führten oft zu weiteren Traumatisierungen und glichen einer Bestrafung.
Mit welchen Folgen mussten traumatisierte Soldaten leben?
Neben dem Zittern und anderen körperlichen Beschwerden traten bei den traumatisierten Soldaten auch psychische Beschwerden. Dies waren unter anderem:
- Alkoholismus
- Angstattacken
- Bindungsangst / Verlust von Bindungen
- Herzrhythmus-Störungen
- Neigung zu Drogen
- Neigung zu gewaltätigem Verhalten
- Schlafstörungen
- Verlust der Kontrolle über Blase und/oder Darm
Unter anderem konnten Trigger – auch Jahre nach dem Krieg – die traumatischen Erinnerungen innerhalb weniger Momente wieder hervorrufen. Diese Trigger können sein:
- Bestimmte Geräusche / Laute Geräusche
- Bestimmte Gegenstände
- Erlebnisse
Viele Soldaten mussten mit ihren traumatischen Erlebnisse selbst klar kommen. Viele wurden arbeitsunfähig.
Reaktion der Gesellschaft auf Kriegszitterer
Die damalige Gesellschaft reagierte mit wenig bis gar keinem Verständnis. Kriegszitterer wurden als Verlierer und Versager wahrgenommen. Ihnen wurde vorgeworfen, dass sie den Sozialstaat ausnutzen und Rentenbetrüger seien.
Weiteres:
Babylon Berlin: Kommissar Gereon Rath leidet auch an der Krankheit Kriegszittern
In der deutschen Erfolgsserie „Babylon Berlin“ leidet der Hauptcharakter Gereon Rath auch am Kriegszittern. Unter anderem wird gezeigt, wie seine Hände zittern und er gegen diese Zittern den Inhalt einer kleinen Ampulle – gefüllt mit Morphium – schluckt. In anderen Szenen ist zusehen, wie Gereon Rath sich nicht mehr auf den Beinen halten kann, zusammenbricht und sein ganzer Körper zuckt. Seine Blase entleert sich und er ist hilflos.