Hikikomori kommt aus dem Japanischen und bedeutet „sich zurückziehen“. Der Begriff beschreibt Menschen, die sich in eine selbstgewählte langfristige Isolation begeben. Meist handelt es sich um männliche Personen. Das Phänomen ist nicht auf Japan beschränkt, sondern lässt sich auch in anderen Teilen der Welt beobachten.
Was bedeutet Hikikomori? Bedeutung, Definition, Erklärung
Hikikomori reduzieren in freier Entscheidung ihre sozialen Kontakte auf ein Minimum. Dabei verbarrikadieren sie sich in ihrer Wohnung oder in ihrem Zimmer.
Viele Betroffene weigern sich, das Haus der Eltern zu verlassen. Dabei ziehen sie sich nicht nur aus der Gesellschaft komplett zurück, sondern beschränken auch weitestgehend den Kontakt zur Familie. Die freiwillige Isolation kann mehrere Jahre, in einigen Fällen sogar Jahrzehnte dauern.
Der Begriff wurde erstmals 1998 vom japanischen Psychologen Tamaki Saito geprägt, wird inzwischen aber auch vom japanischen Gesundheitsministerium verwendet. Die Erstellung von Statistiken über das Phänomen erweist sich als schwierig, weil viele über ihre Selbstisolation keine Auskunft geben. Viele Erkenntnisse basieren daher auf Schätzungen.
Hikikomori: Zahl der Betroffenen offenbar recht groß
Während Saito die Zahl der Hikikomori auf über eine Million Menschen schätzte, ging das Gesundheitsministerium von lediglich 50.000 Betroffenen aus. Eine vom staatlichen Fernsehsender NHK durchgeführte Umfrage zeigte 2013, dass es rund 1,6 Millionen Menschen ohne Sozialkontakte geben könnte.
Da viele es Hikikomori vorziehen anonym zu bleiben, kann die Dunkelziffer höher liegen. Die Altersstruktur ist offenbar breiter als ursprünglich angenommen. Früher gingen Forscher davon aus, dass vor allem 15- bis 39-jährige vom Phänomen betroffen sind.
Die Fernsehumfrage zeigte jedoch, dass unter den 40- bis 60-jährigen sogar mehr Menschen nahezu vollständig auf einen Sozialkontakt verzichten. Die Untersuchungen ließen den Schluss zu, dass rund 100.000 Betroffene bereits seit über 20 Jahren isoliert leben.
Ursachen: Hikikomori
Der Auslöser für die selbst gewählte Isolation liegt oft in der Übergangsphase zwischen Jugend und Erwachsensein. Grund ist eine in Japan verbreitete Versagensangst, die hohen gesellschaftlichen Erwartungen an einen Erwachsenen nicht erfüllen zu können.
Viele junge Erwachsene haben zunehmend Probleme damit, wahre Gefühle und Wünsche in der Gesellschaft unterdrücken zu müssen. Stattdessen sollen Äußerungen in der Öffentlichkeit den Erwartungen der Gesellschaft entsprechen. Diese Anforderungen sind ein Spagat, der jungen Menschen zunehmend schwerfällt.
Psychologen vermissen im modernen Japan Riten, die den Übergang ins Erwachsensein erleichtern. Oft kommen erschwerende Begleiterscheinungen hinzu. Die Mittelschicht in Japan kann auf einen beeindruckenden Wohlstand verweisen. Er ermöglicht es ihr, ihre Kinder auch noch lange nach der Volljährigkeit gut zu versorgen.
Der familiäre Alltag kann ebenfalls Grundlage für eine Isolation sein. Neben dem übermäßigen Verwöhnen des Kindes ist eine gegenseitige Abhängigkeit problematisch. Ein Beispiel ist die enge Beziehung zwischen Mutter und Sohn, wie sie in Japan häufig anzutreffen ist. Dies verhindert zumindest partiell den Aufbau einer Selbstständigkeit des jungen Erwachsenen.
Aufgrund der langen Stagnation der japanischen Wirtschaft gingen wichtige Traditionen im Arbeitsalltag verloren. Früher war es normal, dass der Sprössling im Betrieb des Vaters eine Stelle bekam. Heute ist die Ausbildungs- und Jobsuche wesentlich mühsamer und nicht selten von Misserfolg geprägt. Arbeitslosigkeit ist in Japan traditionell eine Randerscheinung. Sie sorgt häufig für das Gefühl, persönlich gescheitert zu sein.
Nicht zuletzt beeinträchtigt der Leistungsdruck in der Schule das Selbstwertgefühl der Jugendlichen. Die japanische Schule war lange von strengen Aufnahmeprüfungen und Auswendiglernen geprägt. Inzwischen erkannte das Bildungsministerium die Defizite. Es fördert mit neuen Lehrplänen die Kreativität, erzielt aber in der staatlichen Schule nur bedingt Erfolge. Viele von der alten Schulkultur geprägte Eltern schicken ihre Kinder nun auf die „strengeren“ Privatschulen. Zu den Faktoren einer schrittweisen Selbstisolation können auch die Beziehungen unter den Schülern beitragen, die ebenfalls von Wettbewerb geprägt ist. Mobbing ist dabei keineswegs ein westliches Phänomen.
Auswirkungen von Hikikomori
Ein Hikikomori entwickelt sich über einen längeren Zeitraum, bei dem der Rückzug schleichend beginnt. Der erste sichtbare Schritt ist oft die Weigerung, zur Schule zu gehen. Oft zeigen Betroffene weniger Lebensfreude und die Zahl der Freunde schrumpft. Das Auftreten wird zunehmend von Unsicherheit geprägt, die Hikikomori wirken verschlossen.
Wurde die Isolierung vollzogen, spielt sich das Leben oft in einem Raum ab. Die Eltern sorgen für das Essen, ansonsten spielen der Computer und Musik die entscheidende Rolle im Leben der Hikikomori. Sie gehen weder in die Schule, noch einer geregelten Arbeit nach.
Eltern sind oft keine Hilfe, wenn es um einen Ausweg aus der Krise geht. Sie sehen in der Entwicklung ihres Kindes Fehler in der Erziehung und sehen sich dem Phänomen hilflos gegenüber. Inzwischen gibt es in Japan die gemeinnützige Initiative „New Start“, die Betroffenen Brücken zur Rückkehr in die Gesellschaft baut.
Hikikomori: Der Weg aus der Krise
Die Mitarbeiter versuchen mit vorsichtigen Schritten die Hikikomori aus ihrer Isolation zu holen. Sie schreiben zunächst Briefe und nehmen später über Telefon Kontakt auf. Ziel ist es, dass die Betroffenen das Haus wieder verlassen und beginnen, einfachen Tätigkeiten nachzugehen. Es kann Jahre dauern, bis Hikikomori wieder einer geregelten Tätigkeit nachgehen können.
In Japan wird die selbstgewählte Isolation als Krankheit verstanden. Zur Behandlung gibt es vor allem zwei Wege. Der psychiatrische basiert meist auf einer langen stationären Behandlung, die auch auf Medikamente zurückgreift. Mit der Trennung von den Eltern soll das Abhängigkeitsverhältnis der jungen Erwachsenen aufgebrochen werden.
Der sozialpädagogische Weg versucht, ein Umfeld zu schaffen, der den Ausbruch aus der Isolation ermöglicht. Bei dieser Methode werden Hikikomori in Wohngemeinschaften mit anderen Betroffenen integriert. Mitglieder, die schon länger auf dem Weg aus der Isolation sind, helfen Neuankömmlingen bei den ersten Schritten. So gelingt schrittweise der Weg aus der Abkapslung zurück in ein eigenständiges Leben.
Hikikomori international
Der Begriff Hikikomori kommt außerhalb Japans kaum vor. Teilweise wird er in Nachbarländern wie Taiwan genutzt. Das Phänomen eines gesellschaftlichen Rückzugs existiert allerdings auch in anderen Regionen. Im englischsprachigen Raum spricht man meist vom Cocooning, bei dem sich Menschen aus der Gesellschaft in die eigenen vier Wände zurückziehen.
Die Weltgesundheitsorganisation führt in ihrer internationalen Klassifikation von Krankheiten die Sozialphobie und eine ängstliche Persönlichkeitsstörung. Sozialphobie gibt es auch in Deutschland. Das Ausmaß entspricht zwar nicht dem japanischen, aber Ängste vor einem Versagen sorgen auch hierzulande für einen Rückzug aus der Gesellschaft.
Eine Untersuchung des Phänomens fand in Spanien statt. Für eine Studie, die 2016 veröffentlicht wurde, begleiteten Psychologen 190 Fälle über ein Jahr. Sie kamen zu ähnlichen Ergebnissen wie vorher die japanischen Wissenschaftler.
Die spanischen Ärzte fanden in der Studie heraus, dass Betroffene mit einer intensiven Behandlung ein geringeres Rückfallrisiko zeigten.