Impfscham ist gleich nach dem Impfneid ein neuer, gesellschaftlich relevanter Auswuchs der Corona-Pandemie. Schon bald nachdem die Impfungen gegen Covid-19 Fahrt aufnahmen, entwickelte sich in der Folge die Impfscham. Ein Grund dafür ist die sogenannte Priorisierung, also die Impfreihenfolge, die festlegt, welche Personengruppen zuerst geimpft werden sollen.
Leider ließen sich auch Personen impfen, die laut Priorisierung noch nicht an der Reihe waren. Sie sorgten für medien- und deutschlandweite Empörung und schürten den Impfneid. Zumal es sich bei diesen Personen um Politiker handelte, die sich eigentlich als gute Vorbilder an Pläne, Regeln und Gesetze der Regierung halten sollten. Zum bekanntesten Negativbeispiel eines solchen Fehlverhaltens wurde im Januar 2021 Bernd Wiegand, der Oberbürgermeister von Halle. Dass es sich bei seiner Impfdosis um eine handelte, die an jenem Impftag übrig geblieben ist, macht es nicht besser. Schließlich hätte es genügend anderer Menschen gegeben, für die eine Impfung notwendiger gewesen wäre.
Die Priorisierung regelt die Verteilung der Impfstoffe, denn die Ressourcen sind begrenzt. Zunächst sollen alle Personen mit einem besonders hohen Risiko eines schweren oder sogar tödlichen Verlaufs von Covid-19 geimpft werden. Das sind vor allem die Alten und älteren Menschen. Außerdem geht es darum, Menschen mit einem besonders hohen arbeitsbedingten Expositionsrisiko zu impfen. Eine weitere Gruppe sind diejenige, die Überträger sein könnten und beispielsweise aufgrund ihrer Tätigkeiten häufig im Kontakt zu Menschen stehen, die gefährdet sind, an Covid-19 zu erkranken.
Was steckt hinter einem Impf-Schamgefühl?
Scham ist angeboren. Das Empfinden von Scham kann verschiedene Anlässe haben. Wie intensiv das Schamgefühl empfunden wird, ist individuell unterschiedlich. Es reicht von „peinlich berührt sein“ bis „im Boden versinken wollen“. Ein Schamgefühl entwickelt sich in Folge einer Verlegenheit, Demütigung oder Kränkung.
Prinzipiell können zwei verschiedene Erscheinungsformen von Scham unterschieden werden: die moralische und die imagebezogene. Die Menschen betrachten sich in der Regel als moralisch handelnde und geachtete Personen. Wird ein Aspekt davon verletzt, schämen sie sich. Handelt es sich um eine moralische Scham, verhalten sich die Menschen eher positiv und unterstützend. Bei der imagebezogenen Scham ist es anders. Die Menschen reagieren in einem solchen Fall negativ und feindselig.
Die Menschen, die sich wegen ihres Geimpftseins schämen, reagieren auf Nachfrage oder wenn sie „ertappt“ werden eher zurückrudernd oder rechtfertigend. Deshalb kann die Impfscham als moralische Scham bezeichnet werden. Ähnlich wie die Flugscham, eine Schamvariante, die sich vor der Corona-Pandemie im Zusammenhang mit dem Klimawandel eingestellt hatte. Wer fliegt, soll sich schämen. Wer sich schämt, weil er fliegt, weiß ganz genau, dass das Fliegen negative Auswirkungen auf das Klima hat. Wird er also dabei ertappt, reagiert er eher rechtfertigend und reumütig.
Peinlichkeit statt Schuld – die Gefühlskultur verändert sich
Während früher eine Schuld als Verstoß gegen eine moralische Regel Scham auslöste, braucht es heute nicht mehr viel. Aus der Schuldkultur wurde eine Kultur der Peinlichkeit. Ein geringfügiger Anlass genügt und schon zeigt sich das Schamgefühl. Peinlich wird es, wenn gegen eine Regel verstoßen wird, von der ein Betroffener nicht einmal etwas wissen muss. Das kann ein „schlechter“ Geschmack in Sachen Kleidung oder die ungeschickte Handhabung des Bestecks beim Essen im Restaurant sein. Die Scham, die sich nach einem solchen „Fehlverhalten“ bemerkbar macht, ist bei den anderen das Fremdschämen und bei den Betroffenen imagebezogen.
Imagebezogene Scham hat zumeist negative Folgen. Die Betroffenen leiden, die anderen spotten. Moralische Scham hingegen hat eine nicht zu unterschätzende gesellschaftliche Schutzfunktion. Denn sie sorgt dafür, dass Betroffene Mitgefühl mit sich selbst entwickeln und mit denen, die in einer unangenehmen oder peinlichen Lage sind. Scham hat mit (Selbst-) Respekt und Würde zu tun. Schamlosigkeit ist das Gegenteil davon.
Impfneid als Grund für Impfscham
Der Mangel an Impfstoffen führt dazu, dass Menschen, die noch nicht geimpft sind, neidisch sind auf diejenigen, die ihre Impfungen schon bekommen haben. Zum einen existiert die Angst, an Covid-19 zu erkranken. Zum anderen gibt es für Geimpfte die Aussicht auf mehr Freiheiten. Das führt dazu, dass Nichtgeimpfte manchmal einen regelrechten Impfneid entwickeln. Wenn Geimpfte daraufhin eine Impfscham entwickeln, dann ist es zumeist eine Reaktion auf die Gesellschaft, die sie dazu zwingt, ihre Impfung zu rechtfertigen.
Jüngere Geimpfte müssen sich vorwerfen lassen, dass sie laut Priorisierung noch gar nicht an der Reihe gewesen wären. Sie geraten in den Verdacht, sich unberechtigterweise vorgedrängelt zu haben. Geimpfte müssen mit dem Impfneid der anderen rechnen und sprechen deswegen nicht gerne über ihre Impfungen. Ein Vorwurf kann sein, dass es Menschen gibt, die sehr viel dringender eine Impfung benötigen. Außerdem möchten alle die Freiheiten genießen, die Geimpfte haben: das Vorzeigen des Impfpasses statt eines Nachweises eines Negativ-Testergebnisses, Urlaubsreisen im In- und ins Ausland, keine Quarantäne bei Rückreisen aus dem Ausland und einiges mehr. Diese Freiheiten und das Gefühl, vor dem Corona-Virus einigermaßen sicher zu sein, möchten alle Menschen haben.
Ebenso wie die Flugreisenden vor der Corona-Pandemie sollen sich auch die gegen das Virus Geimpfte schämen. So wie die Flugscham den Flugreisenden aufgedrückt wurde, wird auch die Impfscham den Geimpften aufgedrückt. Die Massenmedien und die Social Media sind die Verstärker dieser moralischen Erpressungen. Sie greifen echtes, aber auch vermeintliches Fehlverhalten von Menschen auf, prangern es an und stellen sie bloß. Es fragt sich allerdings, wer sich mehr schämen sollte: die Geimpften oder die Impfneider.
Was hilft gegen Impfscham?
Die gesellschaftliche Situation ist angespannt. Konflikte gibt es angesichts der Corona-Pandemie genügend. Neid und Scham machen alles noch schlimmer. Natürlich geht es niemanden etwas an, weshalb jemand vermeintlich früher als erlaubt geimpft wurde. Um aber den emotionalen Druck aus der Situation zu nehmen, sind folgende Vorgehensweisen bei Nachfragen mögliche Hilfen:
- freundlich, nicht feindselig reagieren
- offen mit den Gefühlen umgehen und ehrlich sagen, wie sich die Frage anfühlt
- sich in den Fragenden bzw. Impfneider hineinversetzen
- Impfneid ist oftmals nur ein Reflex und sollte nicht persönlich genommen werden
- erklären, weshalb die Impfung notwendig war. Vielleicht aus beruflichen Gründen?
Normalerweise können andere Menschen nicht wissen, wer geimpft ist und wer nicht. Wenn aber Geimpfte von sich aus darüber reden und jeden darüber informieren möchten, sollten sie dabei unbedingt Fingerspitzengefühl walten lassen. In einer Zeit, in der sich viele Menschen ungerecht behandelt fühlen und existenzielle Nöte auszustehen haben, sollten persönliche Glücksmomente, die leicht als egoistisch empfunden werden können, sehr überlegt kommuniziert werden. Wer nicht über sein Geimpftsein redet, muss sich auch nicht rechtfertigen oder schämen. Ganz allein zuhause im stillen Kämmerchen sitzend entwickelt niemand eine Impfscham. Sie erwächst aus der Konfrontation mit den Impfneidern.