Was bedeutet “molekularer Bürgerkrieg”? Bedeutung, Definition, Erklärung

Was bedeutet molekularer Bürgerkrieg, Bedeutung, Definition, Erklärung


Der Ausdruck “Molekularer Bürgerkrieg” wurde vom im Jahr 2022 verstorbenen Hans Magnus Enzensberger in seiner 1993 veröffentlichten Schrift “Aussichten auf den Bürgerkrieg” geprägt. In diesem Essy sagt er, dass in den westlichen Metropolen ein “molekularer Bürgerkrieg” begonnen hat.

Was ist “molekularer Bürgerkrieg”? Bedeutung, Definition, Erklärung

Mit dem Ausdruck „molekularer Bürgerkrieg“ meint Enzensberger, dass es in den westlichen Gesellschaften und Großstädten lokal begrenzte Bürgerkriege gibt. Diese sind entweder auf eine Straße oder einen Stadtteil (Ghetto) begrenzt. In diesen Orten fallen moralische Grenzen und Gesetze gelten nicht mehr. Bewaffnete Raubüberfälle, Gewalt und Mord sind an der Tagesordnung und werden langsam dort normal. Hier führen Banden Krieg gegeneinander. Die Polizei hat hier nichts mehr zusagen. Das Gewaltmonopol des Staates gilt hier nicht mehr. Konsequenzen haben die Gewalttäter auch nicht zu befürchten.

Laut Enzensberger können diese molekularen Bürgerkriege eskalieren und zum Flächenbrand werden. Doch solange eine Mehrheit zivil bleibt und den Bürgerkrieg nicht will, bleibt dieser eben molekular und lokal begrenzt.

Siehe auch: Was ist Gratismut?

Wie ein „molekularer Bürgerkrieg“ entsteht:

Der molekulare Bürgerkrieg beginnt harmlos, ohne Ankündigung und politischem Überbau. Erst liegt Müll auf den Straßen und Fensterscheiben sind kaputt (Brokenwindow-Effekt; Glasscherbenviertel). Dann beginnt eine Straße oder ein Viertel zu verwahrlosen. Drogenabhängige lassen ihre benutzten Spritzen liegen und es stinkt nach Urin sowie Kot. Bald darauf werden Autos aufgebrochen und Reifen werden zerstochen. Einbrüche häufen sich, es brennt öfter und man muss damit rechnen auf offener Straße angegriffen zu werden.

Die Menschen, die in solch einem trostlosen Viertel leben, verlieren jede Hoffnung, Perspektive und sind verbittert. Unter Jugendlichen und anderen macht sich Wut breit. Auf einmal gelten nicht mehr Gesetze, sondern das Faustrecht. Hier ist ein rechtsfreier Raum entstanden. Hier hat nun recht, wer stärker und brutaler oder in der Überzahl oder beides ist. Selbst Sanitäter oder Menschen, die einfach nur helfen wollen, werden einfach angegriffen.

Es ist schwer zu erklären, warum die Polizei das Gewaltmonopol an diesen Orten nicht mehr durchsetzen kann und diese Orte scheinbar aufgibt.

Dieser molekularer Bürgerkrieg ist ein von Innen kommender (endogener) schleichender Prozess. Wie Enzensberger ihn beschreibt, ist er nicht ideologisch getrieben, sondern stellt eine reine Auslebung von Rache, Gewalt und Brutalität dar. Diese Menschen wollen einfach zerstören. Sie wollen nicht konstruktiv sein. Sie verlieren über die Zeit ihre Zivilisiertheit und verlieren jede Motivation, sich als produktive oder rechtschaffene Bürger zu verhalten.

Wie kann ein molekularer Bürgerkrieg verhindert werden?

(Meinung der Redaktion)

Es müsste schon bei ersten Anzeichen interveniert werden. Es stellt sich nämlich die Frage, warum hat man es soweit kommen lassen? Soziale Gleichgültigkeit? Ignoranz?

Mit „intervenieren“ ist gemeint, dass z.B. Streetworker vor Ort aktiv werden und auf Anwohner drauf zugehen. Drogenabhängige bräuchten Unterstützung. In Frankfurt am Main gibt es z.B. spezielle Räume in denen sie unter Aufsicht und in relativer Sauberkeit ihre Substanzen einnehmen können. Solche Räume holen Drogenabhängige wenigstens kurz von der Straße und verhindern, dass Spritzen und etc auf die Straße geworfen werden.

Mehr lokales Engagement wie Bürgerinitiativen, gemeinsame Gärten und dritte Räume könnten auch helfen. Dies sind Orte, an denen Menschen zusammen leben, gemeinsam für etwas verantwortlich sind (z.B. für einen Garten) und man sich kennt. Hier tauscht man sich aus und hört (im besten Fall) einander zu.

Die Zivilgesellschaft sollte zeigen wie zivil sie ist und Gemeinschaften aufbauen und pflegen. Denn letztlich könnte nix anderes als das Eingebundensein in eine Gemeinsam das Abdriften (egal in welche Richtung) verhindern.

Autor: Pierre von BedeutungOnline

Hallo, ich bin Autor und Macher von BedeutungOnline. Bei BedeutungOnline dreht sich alles um Worte und Sprache. Denn wie wir sprechen und worüber wir sprechen, formt wie wir die Welt sehen und was uns wichtig ist. Das darzustellen, begeistert mich und deswegen schreibe ich für dich Beiträge über ausgewählte Worte, die in der deutschen Sprache gesprochen werden. Seit 2004 arbeite ich als Journalist. Ich habe Psychologie und Philosophie mit Schwerpunkt Sprache und Bedeutung studiert. Ich arbeite fast täglich an BedeutungOnline und erstelle laufend für dich neue Beiträge. Mehr über BedeutungOnline.de und mich erfährst du hier.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert