Die Unerzogen-Bewegung lehnt eine Erziehung von Kindern im klassischen Sinne mit Verboten und Geboten ab. Eltern und Pädagog*innen sollen sich vielmehr als Ratgeber und Partner der Kinder begreifen. Im Kern geht es darum, das Machtgefälle zwischen Erwachsenen und Kindern, das allein aus dem Altersunterschied resultiert, aufzuheben. Von der antiautoritäten Erziehung der 1970er- bis 1970er-Jahre will sich die Unerzogenen-Bewegung abgrenzen.
Antiautoritär, antipädagogisch, unerzogen: Alter Wein in neuen Schläuchen?
Auf den ersten Blick erscheint es so, auch wenn wir bei wohlmeinender Betrachtung in der Entwicklung seit den 1960er-Jahren ein Ringen um einen optimaleren pädagogischen und innerfamiliären Ansatz feststellen können. Eine kurze Retrospektive:
- Die antiautoritäre Erziehung bzw. vielmehr Nicht-Erziehung der 1960er-Jahre erlaubte den Kindern grundsätzlich alles, was je nach Temperament der kleinen Racker zu mehr oder minder großem Chaos führen konnte. Die Kinder rannten tatsächlich manchmal nackt und ungewaschen durch die Wohnung und bemalten wild die Wände. Dieser Stil führte zur Verwahrlosung.
- In den 1970er-Jahren folgte das Konzept der sogenannten Antipädagogik. Einen gleichnamigen Ratgeber stellte Ekkehard von Braunmühl 1975 vor. Er grenzte sich von der wilden Verwahrlosung der antiautoritären Erziehung ab, doch er hinterfragte und widerlegte praktisch alle pädagogischen Glaubensgrundsätze. Dennoch darf diese Bewegung als Vorläufer der gegenwärtigen Unerzogen-Bewegung gelten.
- Die Unerzogen-Bewegung etablierte sich allmählich im neuen Jahrtausend und ist auch mit den neuen Medien assoziiert. Die Kinder nehmen demnach so viele Informationen digital auf, dass elterliche Anweisungen allzu oft ins Leere laufen. Daher erscheinen frühere Erziehungsansätze als obsolet (überholt).
Der grundsätzliche Ansatz der Unerzogen-Bewegung lehnt namensgemäß Erziehung ab. Damit werden konkrete Erziehungsmaßnahmen benannt, so etwa Vorschriften, Strafen oder Boni für besonders gutes Verhalten. Stattdessen möchten die Protagonist*innen der Unerzogen-Bewegung zwischen Erwachsenen und Kindern ein gleichberechtigtes Verhältnis herstellen.
Grundannahmen der Unerzogen-Bewegung
- #1 Erziehung inkludiert eine Formungsabsicht gegenüber den Kindern und Jugendlichen. Das ist unnatürlich, weil zu diesem Zweck die erwachsene, erziehende Person Macht über den Zögling ausübt, die dadurch legitimiert wird, dass es der Erziehende vermeintlich besser weiß. Diese Hierarchie ist per se schädlich, denn der Erziehende weiß es durchaus nicht immer besser.
- #2 Erziehung ist manipulativ. Weil Kinder dadurch geformt werden sollen, wenden die Erziehenden viele Methoden der klassischen Manipulation an, die auch aus diktatorischen Regimen bekannt sind. Dazu gehören neben Verboten und Gewalt auch Desinformationen. Auf diese Weise erzogene Kinder könnten anfällig für politisch extreme Richtungen werden.
- #3 Die Kinder lernen durch die Erziehung nichts – außer die Regeln, auf denen ihre Erziehung basiert. Dies sind selten allgemeingültige Regeln. Überwiegend folgen sie spezifischen Normen im jeweiligen Elternhaus oder auch im pädagogischen Umfeld ihrer jeweiligen Schule. Zwar gibt es einheitliche Regeln, doch der Auslegungsspielraum ist groß. Vor allem im häuslichen Umfeld legen die Eltern sehr spezifisch die Regeln fest.
- #4 Die klassische Erziehung entstand in einem sozioökonomischen Kontext, den es so heute nicht mehr gibt. Kinder von Bauern- oder Handwerkerfamilien früherer Jahrhunderte mussten durchaus spezifische Regeln lernen, wenn sie im engen sozioökonomischen Raum ihrer Zeit überleben wollten, was überwiegend inkludierte, dass sie im elterlichen Betrieb mitarbeiteten und diesen später übernahmen oder sich als Nicht-Erstgeborene einen ähnlichen Beruf suchten. Ihren Stand überwanden sie selten bis nie. Daher machte die Erziehung in exakt diesem Kontext durchaus Sinn. Heute hemmt sie die vertikale ökonomische Mobilität, sprich den Aufstieg nach oben.
Siehe auch:
Brauchen Kinder Grenzen oder nicht?
Die Anhänger*innen der Unerzogen-Bewegung sagen: Nein, sie brauchen sie nicht. Damit liegen sie konzeptionell sehr dicht bei der antiautoritären Erziehung. Da ihnen jedoch im 21. Jahrhundert bewusst ist, dass dieses Konzept heute als gescheitert gilt, differenzieren sie in aggressive und defensive Grenzen. Letztere schützen denjenigen, der sie zieht, was wahlweise der Erwachsene oder das Kind sein kann. Die/derjenige spricht: „Ich möchte jetzt diese Aktivität nicht mehr unternehmen, weil ich müde bin.“ Eine defensive Grenze betrachtet das Gegenüber als gleichberechtigt und zieht dennoch eine nötige Grenze. Die aggressive Grenze hingegen weist das Gegenüber in seine Schranke, was nur mit einem Machtgefälle möglich ist. (Siehe: Adultismus)
Der Erwachsene spricht: „Diese Aktivität unternehmen wir jetzt nicht!“ Falls das Kind diese doch ausüben, sich beispielsweise auf den nahegelegenen Spielplatz begeben möchte, hindert es der Erwachsene mit körperlichem Eingriff daran. Hierzu muss er keine Gewalt ausüben. Es genügt, das Kind festzuhalten oder im Zimmer einzuschließen. Der Unterschied zwischen beiden Grenzziehungen ist enorm, denn die aggressive Grenze lässt sich blitzschnell und damit für den Moment sehr effizient ziehen, während die defensive Grenze viel Geduld und Überzeugungskraft, mithin sehr viele Ressourcen erfordert. Dennoch werden Kinder, die überzeugt und nicht mit Gewalt zu etwas gezwungen werden, im späteren Leben deutlich eher zu kompetenten Erwachsenen, die verstehen, dass es für alles (auch für Grenzen) Argumente gibt und dass Kompromisse die Regel und nicht die Ausnahme sind.
Diejenigen Kinder hingegen, die aggressive Grenzen erfahren haben, werden später ebenso vorgehen, weil sie genau dies gelernt haben. Achtung: Sie können dabei sehr effiziente und erfolgreiche Manager sein. Allein weil sie ihre innerfamiliären Ressourcen so effizient organisieren, indem sie ihren Kindern blitzschnell aggressive Grenzen setzen, haben sie mehr Zeit für ihren Job und ihre Gedanken, die ständig um die Karriere kreisen. Die Anhänger*innen der Unerzogen-Bewegung kennen häufig solche Manager*innen (mehr Männer als Frauen) aus ihrem beruflichen Umfeld, verabscheuen sie zutiefst, bedauern ihre Familien und erkennen gleichzeitig das Drama, das diese vermeintlich autoritär erzogenen Personen vermeintlich erlitten haben. Oft stimmt dieser Gedanke, manchmal aber auch nicht: Es gibt auch unter aggressiven Managern blanke Egoisten, die eigentlich aus einem liebevollen Elternhaus stammen. Das sind allerdings eher Ausnahmen.
Benötigen Kinder Verbote zu ihrem Schutz?
Viele Eltern geben dem Kleinkind, das auf die Straße rennt, einen Klaps auf den Po und schreien es an: „Willst du überfahren werden?“ So ähnlich gehen Rattenmütter vor, die mit ihrem Nachwuchs eine gefährliche Stelle passieren: Sie beißen unwillige Zöglinge, die nicht schnell genug folgen. In beiden Fällen hat die Mutter dem Kinde zunächst das Leben gerettet. Auch ein Lerneffekt ist in beiden Fällen nicht zu bestreiten. Die Anhänger*innen der Unerzogen-Bewegung nehmen das Kind, sobald es demnächst die Straße allein überqueren könnte, an die Hand und üben das Schauen nach links und rechts, das Einschätzen des Verkehrs und danach das zügige Überqueren der Straße. Das dauert wenige Tage bis Wochen, danach schaut das Kind brav in alle Richtungen, bevor es die Straße überquert. Diese Methode ist effizienter, weil das Kind schon in kürzester Zeit irgendwann allein die Straße überqueren muss. Das mit Gewalt von der Straße weggehaltene Kind beobachtet möglicherweise aus Protest gegen diese elterliche Gewalt die Straße nur ungenügend und wird überfahren.
Wertevermittlung
Die Wertevermittlung ist ein großer kognitiv-emotionaler Komplex. Kinder erlernen Werte am ehesten durch Vorleben, durch Eintrichtern hingegen wenig bis nicht. Gerade weil der Komplex so umfassend ist, werden die Kinder, denen Werte eher eingebläut als vorgelebt und erklärt wurden, im Teenageralter umfangreiche kognitiv-emotionale Konstrukte entwickeln, welche den aggressiv vorgeschriebenen Werten antipodisch entgegenstehen. Der Teenager, der eine schlimme Strafe wegen seines ersten unerlaubten Alkoholkonsums einstecken musste, wird etwa ab dem 18. bis 20. Lebensjahr ein umfassendes geistiges Gerüst entwickeln, das den Drogenkonsum legitimiert, weil ihn vermeintlich nur dieser richtig kreativ macht. Er kann nach langen beruflichen und privaten Katastrophen und einem erfolgreichen Entzug nach dem 35. bis 40. Lebensjahr nochmals Jahre bis Jahrzehnte benötigen, um dieses Konstrukt wieder aufzugeben. Es ist deutlich effizienter und menschlicher, dem jungen Menschen behutsam und schon vor seinem ersten richtigen Besäufnis die Folgen von Alkohol aufzuzeigen. In diesem Fall erweist sich die Unerzogen-Bewegung als überaus hilfreich.