Die Kennlernphase einer Beziehung wird durch das Gefühl der Verliebtheit geprägt. Dieses ist ein romantischer, unrealistischer Ausnahmezustand, der sich hormonell messen lässt. Wichtig zu wissen: Betroffen sind davon alle Beziehungen, also nicht nur erotische Paarbeziehungen, sondern auch Arbeits- und Hobbybeziehungen. Die Kennlernphase dauert ein bis maximal zwei Jahre. Danach kennt sich das Paar gut genug, um die gegenseitigen Stärken und Schwächen verstanden zu haben. Nun geht die Verliebtheit in tiefe Liebe (bei Lebenspartnern), tiefes Vertrauen und gegenseitige Wertschätzung über – oder die Beziehung endet.
Echte vs. unechte Paare
Es gibt immer wieder Paare, die eng miteinander kooperieren, aber nicht ineinander verliebt sind. Im Arbeits- und Hobbyalltag ist das der Normalzustand, weil Beziehungen hier zweckgerichtet geschaffen werden. Es gibt aber auch viele Geschlechtspartner, die so eine Zweckbeziehung eingehen. Sie durchlaufen zwar ebenfalls eine Kennlernphase, weil diese eine starke kognitive Komponente hat (was ist das für ein Mensch, was kann er, wie verhält er sich in bestimmten Situationen), doch es findet nicht die Hormonausschüttung wie bei echter Verliebtheit statt. Die meisten Menschen erkennen das sehr genau. Fast jeder weiß, wann er/sie verliebt ist und wann nicht. Paare ohne Verliebtheit sind unechte Paare. Sie können dennoch sehr lange miteinander kooperieren, also auch langjährige Lebenspartner werden. Dabei unterstützt ihre Beziehung ein Phänomen der Verliebtheit, das alle Verliebten kennen: Mit dem Abflauen des ersten Rausches kann eine schmerzhafte Ernüchterung einsetzen. Davon bleiben unechte Paare verschont. Das kann ihre Beziehung stabilisieren. Diese kann aber auch aus pragmatischen Gründen rasch enden, wenn sie ihren Zweck nicht mehr erfüllt. Die größte Gefahr für unechte Paare besteht darin, dass sich ein Partner in eine andere Person verliebt.
Warum gibt es Verliebtheit in der Kennlernphase?
Das in der Kennlernphase ausgeschüttete Dopamin, das für den verliebten Gefühlsrausch verantwortlich ist, spielt in der Paarbeziehung zwischen Partnern die Rolle, sich intim so weit aufeinander einzulassen, dass Nachwuchs gezeugt und nach Möglichkeit gemeinsam großgezogen wird. Dieser hormonelle Mechanismus ist bei Säugetieren uralt. Ihre jeweiligen Spezies würden als Gattung nicht überleben, wenn es keine anfängliche Verliebtheit gäbe. Je nach Art der Fortpflanzung und Nachkommensaufzucht verläuft die Verliebtheit unterschiedlich stark und lange. Bei Primaten, zu denen wir Menschen gehören, benötigt ein Neugeborenes ein bis zwei Jahre lang die ungeteilte Zuwendung seiner beiden Eltern, um diese Phase überhaupt zu überleben. Dementsprechend lange muss die Verliebtheit andauern. Für spätere Geschwister, die aus derselben Paarbeziehung hervorgehen (was nicht zwingend ist!), wäre das Hormon Oxytocin bedeutsamer, das die langfristige Bindung zwischen Lebenspartnern fördert. Es sorgt dafür, dass Paare sogar lebenslänglich miteinander glücklich sein können. Allerdings gelangen viele Verliebte nicht bis zu dieser Phase, weil sie während der verliebten Kennlernphase wechselseitig zu viele Unzulänglichkeiten feststellen oder weil äußere Umstände (zum Beispiel eine zu große Entfernung zueinander) eine langfristige Beziehung stark erschweren. Anzumerken ist an dieser Stelle, dass die Hormonausschüttungen unabhängig von der Fähigkeit und dem Wunsch, Kinder in die Welt zu setzen, existieren – unter anderem auch bei älteren und bei gleichgeschlechtlichen Paaren. Diesen Kunstgriff hat sich die Natur ausgedacht, um ein Gefühl der Verliebtheit zu schaffen, dass in der ein- bis zweijährigen Kennlernphase alle anderen Gefühle überlagert und damit die beiden Partner befähigt, zugunsten ihrer Liebe auch größte Schwierigkeiten zu überwinden.
Liebes- und Arbeitsbeziehung
Aufmerksame Menschen beobachten, dass es auch in Arbeits-, Freundes- und Hobbybeziehungen eine Kennlernphase mit einem Momentum der Verliebtheit gibt. Die Ursache dafür ist wiederum die beschriebene Hormonausschüttung, die auch zwischen gleichgeschlechtlichen Kontrahenten wirkt, selbst wenn sich diese als uneingeschränkt hetero betrachten (was es in Wahrheit nicht gibt).
Die Verliebtheit schwelt aber in solchen Beziehungen nur latent, sie wird in den meisten Fällen nicht ausgelebt. Sie dient dennoch der Festigung der Beziehung, stellt einen romantischen, unrealistischen Ausnahmezustand dar und endet mit der Kennlernphase. Wie lange der Zustand dauert, kann auch von der Intensität der Beziehung abhängen. So kann eine kollegiale Kennlernphase wie bei Lebenspartnern ein bis zwei Jahre dauern, weil sich die Kolleg*innen arbeitstäglich sehen, während sie im Hobbyverein bei wöchentlichen Treffen sogar etwas länger andauern kann. Sehr viel länger dauert sie aber auch hier nicht, weil das Gehirn nicht darauf programmiert ist, sehr viel länger als zwei Jahre beim Treffen mit einem bestimmten Menschen Dopamin auszuschütten.
Eine seltene Ausnahme von dieser Regel gibt es, wenn zwischen Kollegen, Freunden oder Hobbypartnern die Verliebtheit sehr starke Ausmaße annimmt, aber aus Vernunftgründen niemals ausgelebt wird, weil mindestens ein Partner gebunden ist oder weil es andere Grenzen gibt (großer Altersunterschied, Verbot von privaten Beziehungen in der jeweiligen Organisation etc.). In so einem Fall schaltet das Gehirn auf Ausnahmezustand und hält die Dopaminausschüttung aufrecht, weil es den Fall sozusagen als unerledigt betrachtet: Der andere Partner passt nach seiner Auffassung so gut zum eigenen Ich, dass die intime Verbindung unbedingt anzustreben ist, um im Interesse der Spezies einen Supernachwuchs zu zeugen. Diesen Effekt gibt es auch bei romantischen Lebenspartnern, wenn diese umständehalber eine Fernbeziehung führen.
Der Wunsch nach intimer Beziehung wird dann in Handlungen sublimiert, die einer unverbrüchlichen, ewigen und oft in sachlicher Hinsicht sehr fruchtbaren Beziehung dienen. Manche Politiker oder Firmenchefs haben mit ihrer Sekretärin oder einer engen Beraterin so eine Beziehung, die Jahrzehnte überdauert, während die Verliebtheit permanent auf kleiner Flamme schwelt und nach außen – auch gegenseitig – strengstens kaschiert wird. Für Romanciers ist das eine sehr romantische Vorlage, für die Betroffenen ist es wechselseitig bereichernd und belastend.
Was ist in der Kennlernphase zu beachten?
Die Verliebtheit in der Kennenlernphase führt unweigerlich dazu, eigene Bedürfnisse zurückzustellen. Wenn das beide Partner machen, ist es kein großes Problem. Allerdings wird oft unterstellt, dass die gegenseitige Verliebtheit niemals gleich stark ausfällt (ein Postulat unter anderem von Thornton Wilder in „Die Brücke von San Luis Rey“), sodass die Gefahr bestehen kann, dass ein Partner mehr opfert als der andere. In Extremfällen führt dies zur Selbstaufgabe, die selbstzerstörerische Formen annehmen kann. Bei impulsiven, offensiven und aggressiven Personen kann das Momentum der Fremdzerstörung (Stalking, Gewalt) hinzukommen. So weit muss es nicht kommen, jedoch sind Beziehungen, in denen die Selbstaufgabe eine zu starke Rolle spielt, als toxisch zu betrachten.
Es gibt auch das Phänomen, dass beide Partner zugunsten ihrer Verliebtheit sehr stark zurückstecken. Das ist bei sehr vernünftigen Menschen zu beobachten, die in einer unter suboptimalen Umständen leidenden Beziehung stecken. Wenn nun die Verliebtheit in der Kennlernphase mit Opfern erkauft wird, dürfte sich das Paar nach dem Ende dieser Phase trennen. Das Dopamin wirkt nicht mehr, die Schwierigkeiten sind geblieben. Das Gehirn schaltet nun auf Effizienz um und beschließt, aus Gründen der zu hohen psychischen (und oft auch praktischen) Kosten die Beziehung zu beenden. Diese Personen streben dann eine neue Partnerschaft mit neuem Rausch der Verliebtheit an.
Siehe: Was bedeutet „zusammen sein“?
Wie lässt sich die Kennlernphase in eine langfristige Beziehung überführen?
Bei Spezies, die eigentlich ihrer Natur gemäß bis zur Selbstständigkeit des Nachwuchses diesen gemeinsam betreuen sollten, ist es gehirntechnisch vorgesehen, den Rausch der Verliebtheit
- a) zum Zeugen von Nachwuchs,
- b) zum Herstellen einer sehr tiefen Verbindung und
- c) zum Überführen dieser Verbindung in die Langfristigkeit
auszunutzen. Menschen sind eigentlich darauf programmiert, lebenslänglich als Paar zusammenzuleben, wie das auch die Störche praktizieren. Sie ziehen zunächst 20 Jahre lang den Nachwuchs groß, dann kümmern sie sich gemeinsam um die Enkel und Urenkel. Alle Nachkommen profitieren davon, dass sich das Paar nicht trennt. Für so eine Verbindung kann durchaus die Kennlernphase ausgenutzt werden.
Die erste Voraussetzung ist das Finden eines geeigneten Partners auch unter langfristigen Gesichtspunkten. Er muss schon zu den eigenen Lebenszielen passen. Der zweite, sehr wichtige Schritt ist das Aushandeln der Konfliktbewältigung in der Kennlernphase. Diese legt Konflikte offen, dazu ist sie schließlich da. Das Paar sollte eine Konfliktkultur anstreben, mit der die nötigen Kompromisse gefunden werden. Wenn das gelingt, ist der Übergang von der Kennlern- in die Langfristphase bei Lebenspartnern an der Geschlechtlichkeit festzustellen: Ihr Rhythmus stabilisiert sich. Anfangs hat ein stark verliebtes Paar täglich Geschlechtsverkehr, ab dem zweiten bis dritten Jahr dann ein- bis zweimal wöchentlich, wobei es auch bleibt. Wenn das funktioniert und es auch sonst keinen Streit gibt, dürfen wir das Paar beglückwünschen.