Die bedürfnisorientierte Erziehung, im englischen Sprachraum als Attachment Parenting („Bindungserziehung“) bezeichnet, entstand schon in den 1980er-Jahren in den USA. Sie soll die Mutter-Kind-Bindung fördern, indem die Mutter so viel Zeit wie möglich in engem Körperkontakt mit dem Kind verbringt. Auch verhalten sich die Eltern gegenüber dem Kind so responsiv (reagierend) wie möglich.
Was ist bedürfnisorientierte Erziehung / Attachment Parenting? Bedeutung, Definition, Erklärung
Das Konzept basiert auf einem gesellschaftlichen Konsens in den USA und anderen westlichen Staaten, doch den Begriff „Attachment Parenting“ prägte der US-amerikanische Kinderarzt William Sears mit seinem erst 2001 erschienenen „Attachment Parenting Book“. Er forschte zu diesem Erziehungsstil und publizierte umfassend dazu. Bis heute gibt es Befürworter und Kritiker der bedürfnisorientierten Erziehung. Sie hat Vorläufer in früheren, ähnlich gelagerten Methoden wie dem Rat von Benjamin Spock, der ab 1946 in Erziehungsratgebern den engen Körperkontakt zwischen Säugling und Mutter empfahl. Ab Mitte der 1970 kam eine ähnliche Empfehlung von Jean Liedloff, die den Körperkontakt zwischen Müttern und Kleinkindern bei südamerikanischen Ureinwohnern beobachtet hatte. Es gab weitere Expert*innen seit den 1980er-Jahren, die sich dieser Auffassung anschlossen. Eine erste Organisation, die das Konzept des Attachment Parenting offensiv vertrat, entstand Mitte der 1990er-Jahre im US-Bundesstaat Georgia. Einige Vertreter*innen dieser pädagogischen Richtung gingen in der Folge noch weiter und verknüpften das frühkindliche Attachment Parenting mit einem späteren Unschooling, was als sehr umstritten gilt.
Methoden der bedürfnisorientierten Erziehung
Eine zentrale Methode ist das Babyreading, bei dem die Mutter die Signale des Säuglings so genau wie möglich erfasst. Dies fördert die Kontingenz, mit der eine harmonische Gefühlskommunikation zwischen Mutter und Kind gemeint ist. Diese gelingt allerdings nach Auffassung von Vertreter*innen des Attachment Parenting rein intuitiv nur Müttern mit einer hohen Fähigkeit zur Responsivität. Wenn diese vorhanden ist, führt das zum Attunement, also der emotionalen Feinabstimmung zwischen Mutter und Baby. Babyreading soll sich aber auch durch weniger ursprünglich begabte Mütter erlernen lassen. Hierfür schlug Sears sieben Verhaltensweisen („7 Baby-Bs“) vor. B steht einerseits für Behavior = Verhaltensweise und andererseits für die Kennzeichnung jeder einzelnen dieser Verhaltensweisen:
- #1 Birth bonding = Körper- und Augenkontakt zum Säugling ab der Geburt
- #2 Breastfeeding = Stillen statt Flaschennahrung
- #3 Babywearing = Tragen am Körper
- #4 Bedding close to baby = Schlafen beim Kind
- #5 Belief baby’s cry = Beachten des Schreiens
- #6 Beware of baby-trainers = kein Schlaftraining
- #7 Balance = Ausbalancieren der Mutter-Kind-Bedürfnisse
Unmittelbare Kontaktaufnahme nach der Geburt
Vertreter des Attachment Parentings gehen davon aus, dass unmittelbar nach dem Geburtsvorgang nur ein sehr kurzes Zeitfenster existiert, in welchem die Mutter die Chance hat, einen so engen Körperkontakt herzustellen, dass sie zur „Prägung“ des Säuglings in der Lage ist. Es gibt sogar diesbezügliche Studien aus den 1960er-Jahren, welche diese Annahme zu bestätigen scheinen. Auch verhalten sich Mütter und ihre Hebammen seit Menschengedenken so: Unmittelbar nach der Geburt legt die Hebamme der Mutter den Säugling auf die Brust. Dies geschieht in allen Kulturen. Sears ging bei der Bewertung dieses Vorgangs noch weiter: Er empfahl den Müttern, auf Schmerzmedikamente während der Geburt zu verzichten. Die Analgetika würden auch das Kind im Mutterleib betäuben, was die Bindung unmittelbar nach der Geburt behindern müsste.
Bedeutung des Stillens
Dass Stillen die Mutter-Kind-Bindung fördert, ist inzwischen unumstritten. In den ersten Lebenstagen des Säuglings führt es zu Oxytocinausschüttungen bei der Mutter, welche ihre emotionale Bindung an das Kind unterstützen. Darüber hinaus erfolgt Stillen eher nach den Bedürfnissen des Säuglings, was die Mutter veranlasst, ihn genauer zu beobachten. Die bindungsfördernden Hormone Oxytocin und Prolaktin haben aber sehr kurze Halbwertszeiten, weshalb häufiges Stillen empfohlen wird – bis zu 12 Mal am Tag und dabei besonders oft zwischen nachts 01.00 Uhr bis morgens 06.00 Uhr, so die Anhänger*innen des Attachment Parentings. Diese empfehlen das Stillen sogar beim Wunsch des Kindes bis zum 4. Lebensjahr, was im Einklang mit den Gepflogenheiten vieler Naturvölker steht, in westlichen Gesellschaften aber überwiegend abgelehnt wird. Auch die WHO empfiehlt lediglich das ausschließliche Stillen im ersten halben Lebensjahr und ein zusätzliches Stillen etwa bis zum Beginn des dritten Lebensjahres. Viele Studien zum Wert des Stillens gibt es allerdings nicht. Die wenigen Untersuchungen nach Maßgabe der westlich orientierten Medizin lassen jedoch vermuten, dass die gesundheitliche Wirkung des Langzeitstillens überschätzt werden könnte.
Enger Körperkontakt durch Tragen am Körper
Ebenso wie beim Stillen sagt uns auch beim Tragen am Körper die allgemeine Erfahrung, dass dies ein Baby glücklich macht. Die bedürfnisorientierte Erziehung baut diesen Punkt noch etwas weiter aus. Demnach erlaubt das Tragen am Körper, das Kind in die Tagesaktivitäten der Mutter oder auch des tragenden Vaters einzubeziehen. Der Säugling erfährt dabei mehr Sinnesreize und steht außerdem unter ständiger Beobachtung. Berufstätige Elternteile sollen demnach das Tragen am Körper für mindestens fünf Stunden täglich anstreben. Dass dies die Gesundheit und die Bindung der Kinder an die Eltern fördert, hat in den 1990er-Jahren ein Forscherteam aus New York nachgewiesen. Allerdings bezog sich die Studie explizit auf Kinder aus unteren sozialen Schichten und lässt sich nach vorherrschender Auffassung noch nicht komplett auf alle Kinder übertragen. Nach Sears soll das Tragen auch den kindlichen Gleichgewichtssinn trainieren und die Sprachentwicklung fördern. Dies wurde noch nicht durch Studien nachgewiesen. Auf jeden Fall – wiederum durch allgemeine Erfahrung bestätigt und auch durch Studien belegt – beruhigt das Tragen die Säuglinge, die im zweiten bis vierten Lebensmonat am häufigsten weinen und in dieser Phase die Beruhigung am meisten benötigen. Tragen dient auch als Einschlafhilfe und kann sogar bockige Kinder bis zum dritten Lebensjahr besänftigen. Es gibt allerdings Erziehungswissenschaftler, die das ständige Tragen schon gegen Ende des ersten Lebensjahres für bedenklich halten. Das Kind entwickle dann natürliche Autonomiebestrebungen, die sich nicht angemessen entfalten könnten.
Schlafen beim Kind
Dieser Punkt ist sehr umstritten. Die bedürfnisorientierte Erziehung empfiehlt das Schlafen bei der Mutter bzw. im elterlichen Bett bis ins fortgeschrittene Kleinkindalter, während viele Paare dies als sehr starke Einschränkung empfinden, weil das Kind davon nur sehr schwer zu entwöhnen ist und zwischenzeitliche Ausnahmen gar nicht akzeptiert. Unbestritten ist jedoch, dass die Kinder das Schlafen bei der Mutter bzw. den Eltern sehr genießen und in der Tat besser ein- und durchschlafen. Es gibt auch das Argument, dass die Kinder durch das gemeinsame Schlafen überhaupt verstehen, wie Schlafenszeit funktioniert. Ärzte argumentieren zugunsten des gemeinsamen Schlafens, dass dies das Risiko von SIDS (plötzlichem Kindstod) senkt, das bei ~0,5 ‰ für alle Säuglinge liegt (einer von 2.000). Gesenkt wird das SIDS-Risiko, weil die Mutter und der Säugling beim gemeinsamen Schlafen ihre Atmung synchronisieren, was unter anderem eine britische Studie bestätigte. Es gibt allerdings auch Studien, die auf einen etwas unruhigeren Schlaf aller Beteiligten im Familienbett verweisen, was wiederum die allgemeine Lebenserfahrung bestätigt.
Beachten des Schreiens
Vertreter*innen des Attachment Parentings verweisen ausdrücklich darauf, dass Schreien das einzige starke Kommunikationsmittel eines Säuglings ist, was zweifellos stimmt. Sears bezeichnet es als „Bindungswerkzeug“ und fordert die Eltern auf, es zu „lesen“. Das Kind benötigt demnach eine Rückmeldung, dass es gehört wurde. Diese würde ihm helfen, seine Äußerungen zunehmend zu nuancieren. Eine Unterbindung von zu häufigem Schreien sei durch Schreiprävention möglich, die allein schon durch die anderen Maßnahmen des langen und häufigen Stillens und Tragens sowie gemeinsamen Schlafens im Grunde erfolge. Dem widersprechen andere Erziehungswissenschaftler. Sie gehen davon aus, dass auch vorbildlich versorgte Kinder überdurchschnittlich häufig schreien können („Schreibaby“) und dass auch ein Säugling lernen müsse, dass er seinen Willen nicht jederzeit durch Schreien durchsetzen könne, weshalb er ruhig einmal bis zur Erschöpfung schreien und weinen solle. An diesem Punkt scheiden sich in der Tat bis heute die Geister.
Kein Schlaftraining
Die bedürfnisorientierte Erziehung lehnt Schlaftraining des Säuglings ab, weil es die Mutter „verhärte“. Die Kinder würden durch Schlaftraining nur resignieren und apathisch werden. Sears kennzeichnete dies sogar als „Shutdown Syndrome“, wobei die Klassifikationssysteme ICD und DSM dieses Syndrom nicht kennen. Allerdings ist Schlaftraining, dass auch vermarktet wird, durchaus umstritten.
Balance zwischen den Bedürfnissen von Mutter und Säugling
Da Attachment Parenting in seiner ursprünglichen Form – welche der Mutter die größte Aufgabe zuteilt – eine hohe Belastung darstellt, gehen frühe Autoren wie Sears davon aus, dass die Balance zwischen den Bedürfnissen von Mutter und Säugling essenziell für das Gelingen des Vorhabens ist. Hierfür dienen mehrere Maßnahmen. So soll der Partner der Mutter die meisten sonstigen Aufgaben im Haushalt abnehmen. Im 21. Jahrhundert teilen sich allerdings sehr oft die Eltern die Betreuungszeit des Säuglings. Auch Väter tragen lange und ausgiebig das Kind und schlafen mit ihm gemeinsam ein. Dennoch verbraucht die starke Hinwendung zu einem Säugling und Kleinkind viele Ressourcen, die bei Elternteilen durchaus einen Burnout auslösen können. Strikte Verfechter*innen von Attachment Parenting fordern auch in diesem Fall, die Methode durchzuhalten. Das muss nicht einmal vollkommen falsch sein, denn wenn ein Säugling oder Kleinstkind wegen eines Burnouts der Mutter plötzlich weniger Zuwendung erfährt, dürfte er/es darauf sehr unruhig reagieren, was den Stress zweifellos vergrößert. In der Praxis gilt es, durch die genannte Balance zwischen mütterlichen und kindlichen Bedürfnissen dem Burnout von vornherein vorzubeugen, im Fall der Fälle aber Kompromisse zu finden, indem beispielsweise der Vater oder auch die Großeltern des Säuglings und andere Angehörige deutlich stärker mitwirken.
Fazit: Was ist bedürfnisorientierte Erziehung / Attachment Parenting?
Viele Aspekte der bedürfnisorientierten Erziehung gelten im Jahr 2021 als Allgemeingut, andere bleiben umstritten. Das Konzept sollte möglicherweise eher abstrakt betrachtet werden. Die Formalisierung in „7 Baby-Bs“ war ein früher Versuch, eine gültige Methode zu entwerfen, doch niemand muss sie minutiös anwenden. Zu hinterfragen ist zudem, wie berufstätige alleinerziehende Mütter (in seltenen Fällen auch Väter) die Ressourcen für Attachment Parenting organisieren sollen.