Was bedeutet „Neurodivers“? Bedeutung, Definition, Erklärung

Was bedeutet Neurodivers, Bedeutung, Definition, Erklärung


„Neurodivers“ bedeutet „neurologisch vielfältig“. Atypische neurologische Ausstattungen sollen im Zuge von Neurodiversität als Teil des normalen menschlichen Spektrums respektiert werden. Die Einteilung in „neurotypisch“ und „neurodivergent“, die ohnehin nicht problemlos möglich ist, soll nicht mehr vorgenommen werden, sondern vielmehr eine Entpathologisierung von Neuro-Minderheiten stattfinden. Dieses Ziel verfolgt die globale Neurodiversitätsbewegung. Dabei spielt vor allem der Wandel vom „medizinischen Modell von Behinderung“ zum „sozialen Modell von Behinderung“ eine Rolle.

Wortherkunft und Bedeutung von „neurodivers“

Das Adjektiv „neurodivers“ und das dazugehörige Nomen „Neurodiversität“, welches wiederum auch als „neurologische Diversität“ bezeichnet werden kann, setzt sich aus folgenden Worten zusammen:

„Neurologie“ ist eine Teildisziplin der Medizin. Sie beschäftigt sich mit der Lehre des Nervensystems. Ein Großteil davon betrifft das Gehirn. Der Begriff stammt aus dem Altgriechischen. Das altgriechische Wort „Neuron“ bedeutet „Nerv“ und „logie“ ist „die Lehre“.

„Diversität“ bezeichnet Vielfalt und Verschiedenheit. Das Wort kommt aus dem Lateinischen: „diversitas“ kann mit „Unterschied“ oder „Verschiedenheit“ übersetzt werden.

Neurodiversität beschreibt also die neurologische Vielfalt: die Vielfalt kognitiver Funktionen. Es handelt sich dabei um einen Neologismus, also ein neu geschaffenes Wort.

Der Gedanke hinter dem Fachbegriff „Neurodiversität“ ist, dass die Vielfalt in der neurologischen Ausstattung von Menschen als eine normale soziale Vielfalt wahrgenommen und respektiert wird. Neurologische und psychische Krankheiten sowie Entwicklungsstörungen gelten im Zuge der Neurodiversität als natürliche menschliche neurologische Vielfalt. Dazu zählen zum Beispiel Menschen mit AD(H)S oder Autismus.
Neurodivers sind somit alle Menschen, sowohl jene mit typischen als auch jene mit atypischen neurologischen Ausstattungen.

„Neurotypisch“ und „neurodivergent“

„Neurotypisch“ bezeichnet jenen großen Teil der Menschen, der sich in seiner neurologischen Ausstattung sehr ähnlich ist. Ihre neurologische Entwicklung entspricht dem, was als „normal“ wahrgenommen wird.

Dem gegenüber steht der Begriff „neurodivergent“. Unter diesem werden all jene Menschen erfasst, die nicht in das typische neurologische Schema fallen. Das betrifft Menschen mit Autismus, AD(H)S, Dyskalkulie (Rechenschwäche), Dyslexie (Lese-Rechtschreibschwäche), Dyspraxie (motorische Entwicklungsstörung) oder Zwangsstörungen.

Allerdings ist es schwierig, Menschen eindeutig in „neurotypisch“ und „neurodivergent“ einzuteilen. Intellektuelle und soziale Fähigkeiten können in unterschiedlichen Ausmaßen neurotypisch oder neurodivergent sein, auch wenn eine Person keinerlei diagnostizierte Störung aufweist. Hier ist es äußerst schwierig, eine eindeutige Trennlinie zu ziehen, ab wann man eine Art des Verhaltens oder Erlebens als neurodivergent bezeichnet. Ein Mensch, der keine Autismus-Spektrum-Störungsdiagnose erhalten hat, kann trotzdem bestimmte autistische Symptome aufweisen. Die Einteilung in die zwei Gruppen funktioniert nur bedingt, was sich beispielhaft an dem fließenden Übergang von Menschen mit Autismus und Menschen ohne Autismus beobachten lässt.

Ein und dasselbe Krankheitsbild muss nicht bei jeder betroffenen Person auftreten. So unterscheiden sich die Symptome von AD(H)S oder Autismus bei jedem Menschen und weichen zum Teil stark voneinander ab. Wie intensiv eine betroffene Person dadurch in ihrem Alltag eingeschränkt ist und in welchem Ausmaß ihr eine Teilhabe an der Gesellschaft möglich ist, unterscheidet sich ebenfalls stark.

Ein weiteres Problem ist, dass man nicht ohne Weiteres sagen kann, wie ein „neurotypisches“ Gehirn aussieht. Die Menschen, die klar als neurotypisch identifiziert werden können, gibt es nicht. Die Unterschiede zwischen einzelnen Menschen sind immer in einem solchen Ausmaß vorhanden, dass sich kein Standard für einen neurotypischen Menschen ausmachen lässt.

Verwendung und Funktion von „neurodivers“

Eine Funktion des Begriffes der Neurodiversität ist es, Vorurteilen gegen neurodivergente Menschen entgegenzutreten. Er wird oft als Alternative zu Begriffen wie „Störung“, „Krankheit“, „Dysfunktion“ oder „Behinderung“ genutzt, die eine stark negative Konnotation mit sich bringen. Kritikerinnen und Kritiker dieser negativen Bezeichnungen erkennen im Glauben, der im allgemeinen Bewusstsein vorherrscht, dass solche neurologischen Defizite behandelt und geheilt werden müssten, ein großes Problem.

Die Bezeichnung als Entwicklungsstörungen, Verhaltensstörungen etc. ist für Betroffene oft ein Ärgernis, da sie ihre neurologischen Gegebenheiten eher als eine andere Art, die Welt zu erleben, verstehen. Denken, Handeln und Erleben finden anders statt – das macht sie aber nicht zu etwas Negativem, argumentieren viele Betroffene. Die Begriffe haben einen ausschließenden Charakter und implizieren immer, dass etwas nicht stimmt, nicht normal ist und nicht dazugehört.

Neurodiversitätsbewegung

Die Neurodiversitätsbewegung setzt sich für die Rechte von Menschen ein, die zu Neuro-Minderheiten zählen. Sie entstand in den 1990er-Jahren und weitete sich zu einer globalen Bewegung aus. Die größte Untergruppe setzt sich für die Rechte von Menschen mit Autismus ein. Auslöser für die Entstehung der Bewegung war die pathologische Betrachtung von neurodivergenten Menschen in Europa und den USA.

Das Ziel der Neurodiversitätsbewegung ist ein Abbau von Stigmatisierung und Diskriminierung und ein Aufbau von Chancengleichheit. Im bestehenden System seien alltägliche Dinge vorrangig auf neurotypische Menschen ausgelegt. Demnach müssten sich viele Dinge ändern, um neurodivergenten Menschen den Zugang zu erleichtern oder überhaupt erst zu ermöglichen.

Die Bewegung besteht aus Einzelpersonen, Verbänden und Institutionen, die sich jeweils sowohl in ihren Forderungen als auch den Methoden unterscheiden. Eine Gemeinsamkeit im Vorgehen ist allerdings die Aufklärung über Neuro-Minderheiten durch das Bereitstellen von Informationen. Die meisten Menschen hätten ein bestimmtes einseitiges Bild im Kopf, wenn sie an „Autismus“, „AD(H)S“ oder ähnliches denken. Diese Vorstellungen seien durch die Pathologisierung geprägt und sowohl negativ behaftet als auch kein differenziertes Abbild der Realität. Durch die gezielte Aufklärung ließe sich dem entgegenwirken, davon ist ein Großteil der Bewegung überzeugt.

Das soziale Modell von Behinderung

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass Vertreterinnen und Vertreter der Neurodiversitätsbewegung darauf abzielen, das vorherrschende „medizinische Modell von Behinderung“ durch das „soziale Modell von Behinderung“ abzulösen.

Während das medizinische Modell von Behinderung die Krankheit oder Behinderung als untrennbar von der Person und damit viele Nachteile sowie eine deutliche Verringerung der Lebensqualität einhergehen sieht, konzentriert sich das soziale Modell von Behinderung auf die Veränderungen, die in der Gesellschaft erforderlich sind, um Ausgrenzungen zu bekämpfen.

Die notwendigen Veränderungen sind vielfältig. Zum einen bräuchte es eine generell positivere Einstellung gegenüber Menschen mit Beeinträchtigungen. Das kann durch mehr Sichtbarkeit von Minderheiten, den allgemeinen Zugang zu Informationen über die Vielfältigkeit neurologischer Voraussetzungen und infolgedessen einem Rückgang von Stigmatisierung, Unterschätzung und Abwertung geschehen. Zum anderen würden Hilfestellungen benötigt, die zu einer Barrierefreiheit beitragen. Diese Hilfen richten sich nach den jeweiligen Bedürfnissen der einzelnen Personen und Gruppen.

Wichtig bei diesem Modell ist die Unterscheidung zwischen „Beeinträchtigung“ und „Behinderung“. Während „Beeinträchtigung“ die tatsächlichen körperlichen und geistigen Voraussetzungen eines Menschen bezeichnet, sind „Behinderungen“ die gesellschaftlichen Einschränkungen, die Menschen mit Beeinträchtigungen erfahren. Eine Behinderung findet dadurch statt, dass in der Gesellschaft keine Anpassung an die Bedürfnisse von Menschen mit Beeinträchtigung geschieht.

Autor: Pierre von BedeutungOnline

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