„Mehrgewichtig“ wurde ursprünglich als Euphemismus (Beschönigung) für übergewichtig erdacht, doch inzwischen dient der Begriff als Argumentationsgrundlage dafür, dass Menschen zu ihrem Gewicht stehen sollten. Übergewicht, so die Anhänger dieser Bezeichnung, gilt zwar als gesundheitlicher Risikofaktor, doch das darf hinterfragt werden. Die Stigmatisierung als zu dicke Person könne Stress erzeugen, der mindestens ebenso gefährlich ist. Daher bezeichnen sie sich lieber als mehrgewichtig.
Wie gefährlich ist Übergewicht wirklich?
Die Meinung, dass Übergewicht zu kardiovaskulären Erkrankungen und Diabetes führt, ist eine Mehrheitsmeinung. Als Ausweg werden ein diätetischer Lebenstil und Sport empfohlen. Das predigen Laien, doch die Ärzteschaft schließt sich nahezu ausnahmslos an. Allerdings darf nach Auffassung der Minderheit, die Mehrgewicht für nicht so gefährlich hält, schon die Definition des sogenannten Übergewichts hinterfragt werden. Dieser liegt der BMI (Body-Mass-Index) zugrunde, der willkürlich aufgestellt wurde und daher wenig aussagekräftig sein soll. Gegner der Stigmatisierung von Übergewicht behaupten, dass er keine Datenbasis für ein erhöhtes Sterberisiko durch Übergewicht liefert. Dieses sei lediglich bei extrem dicken Personen nachweisbar. Betreffende Studien gibt es in der Tat.
Sie können belegen, dass bis zu 30 % der laut BMI adipösen Personen nicht einmal häufiger krank werden als die Durchschnittsbevölkerung. Hierzu ist anzumerken, dass Studien keine allgemeingültigen Wahrheiten repräsentieren. Was sie aussagen, hängt vom Studiendesign ab. Doch nehmen wir einmal zur Kenntnis, dass es solche Studienergebnisse gibt.
Aus diesen schlussfolgern nun die Gegner des Diätenterrors, als die sie sich empfinden, dass Übergewicht keinesfalls in dem Umfang Krankheiten verursacht, wie es die Gesellschaft und auch die Ärzteschaft behaupten. Die Studien, die solche Gefahren belegen, stellen nach ihrer Auffassung lediglich Korrelationen, aber nicht unbedingt Kausalitäten her. Es mag zwar sein, dass übergewichtige Menschen häufiger erkranken, doch dies müsse keinesfalls allein von ihrem hohen Gewicht herrühren. Daher lehnt diese Gruppe die stigmatisierende Bezeichnung „übergewichtig“ ab und bevorzugt stattdessen „mehrgewichtig“.
Einige gesundheitliche Fakten zu „mehrgewichtig“
Diejenigen, die für mehr- statt übergewichtig plädieren, führen als Fakt an, dass die einzige wirkliche Erkrankung durch Mehrgewicht die Arthrose sei, für die es allerdings noch mehr Risikofaktoren geben soll. Diabetes soll zwar mit Übergewicht stark assoziiert sein, denn ~80 % aller Diabetiker*innen sind über- bzw. mehrgewichtig. Doch auch 15 % der normalgewichtigen Bevölkerung leiden unter Diabetes Typ 2. Daher kann wohl das hohe Gewicht nicht die einzige Ursache für die Erkrankung sein.
Die Argumentatoren behaupten nun, dass es keine Studien gebe, die den signifikanten Zusammenhang zwischen Übergewicht und Diabetes beweisen. Diese Behauptung darf allerdings bezweifelt werden. Andererseits gibt es nachgewiesene genetische Ursachen für Diabetes. Übergewicht scheint dennoch ein unzweifelhafter Risikofaktor zu sein.
Doch es lässt sich auch anders argumentieren: Möglicherweise verursacht dieselbe genetische Disposition gleichzeitig Mehrgewicht und Diabetes. Das würde wiederum bedeuten, dass es den Betroffenen nicht viel nutzt, wenn sie ihr Gewicht senken: Sie würden damit zwar schlanker, unterlägen aber immer noch demselben Risiko, an Diabetes zu erkranken. Diese Behauptung darf angezweifelt werden. Dennoch soll es Studien geben, die ganz andere Risikofaktoren für Diabetes aufzeigen, nämlich unter anderem Armut und soziale Ausgrenzung. Das wiederum ist ein Argument für die Vertreter*innen der Mehr- statt Übergewichtigkeit: Sie leiten aus diesem Fakt ab, dass die Ausgrenzung von Übergewichtigen und ihr Body Shaming eigentlich das Diabetesrisiko erhöht. Daraus folgern sie, dass die Mehrgewichtigen doch vielmehr zu ihrem Gewicht stehen sollten. Ähnlich argumentieren die Anhänger*innen in Bezug auf weitere Erkrankungen wie Bluthochdruck.
Risikofaktor Stress
Da Übergewichtige diskriminiert werden, stehen sie unter erheblichem Stress. Nun lässt sich unzweifelhaft belegen, dass dieser ein hohes Krankheitsrisiko darstellt. Er kann unter anderem Herz-Kreislauf-Erkrankungen, darüber hinaus aber auch Depressionen und Suchterkrankungen auslösen. Das könnte unter Umständen das höhere Krankheitsrisiko von übergewichtigen Personen erklären. Daher lautet nun die Argumentation: Lasst uns von Mehr- statt von Übergewicht sprechen. Lasst uns als Mehrgewichtige zu unserem Körper stehen. Damit leben wir gesünder. Diese Argumentation erklärt die Anwendung der Begrifflichkeit „Mehrgewicht“.
Die Dinge nicht mehr bei ihrem Namen zu nennen, macht sie nicht besser. Beschönigen hilft nur scheinbar und auch nur sehr kurzfristig. Der Begriff ,,Übergewicht“ war ja auch schon eine nettere Bezeichnung für Fettleibigkeit. Diesen jetzt aus falscher Rücksicht in ,,Mehrgewicht“ umzubenennen, ist reine begriffliche Kosmetik. Wer den Begriff ,,über“ seelisch nicht verkraftet, wird auch bald mit ,,mehr“ nicht klarkommen.