Während sich die Mitglieder der NATO in der Regel vor allem als ein verteidigungspolitischer Block positionieren und sicherheitspolitische Interessen der Mitglieder vertreten, darf nicht vergessen werden, dass es sich eigentlich um ein militärisches Bündnis handelt. Der hauptsächliche Sinn der NATO besteht im gegenseitigen Beistand bei einem Angriff auf eines der Mitgliedsländer. Die Aktivierung des sogenannten NATO-Bündnisfall würde mit einem Schlag dafür sorgen, dass sich gleich mehrere Länder in einem Krieg mit einem Feind befinden. Besonders unter dem Eindruck der Aggressionen durch Russland im Jahr 2022 wird eben dieses Szenario unter Sicherheitspolitikern wieder ausgiebig diskutiert.
Die Folgen des NATO-Bündnisfalls und die direkten Auswirkungen
Der Bündnisfall der NATO wird in Artikel 5 des Vertrags des Nordatlantik-Paktes geregelt und nimmt dabei Bezug auf Artikel 51 in der Charta der Vereinten Nationen. Diese besagt, dass ein Land im Fall eines Angriffs das Recht auf Selbstverteidigung hat und entsprechend auch ohne ein gesondertes UN-Mandat zum Schutz der eigenen Grenzen agieren darf. Was in den Verträgen mitunter komplex dargestellt wird, sagt in der Realität einfach, dass die Mitglieder der NATO einem anderen Land beistehen würden, sofern es angegriffen wird und im nächsten Schritt sowohl defensive Maßnahmen zum Schutz als auch offensive Maßnahmen zur Eindämmung der Gefahr übernehmen werden.
Dabei sollte festgehalten werden, dass dieser Fall nicht vollkommen automatisch eintritt. Es ist weiterhin der Bundestag, der über einen solchen Fall entscheiden würde. Selbst nach einem Angriff ist es also das deutsche Parlament, das am Ende entscheiden würde, ob man tatsächlich die Verbündeten militärisch und wirtschaftlich unterstützt. Dabei muss man von der Theorie reden, denn tatsächlich ist dieser Fall in seiner eigentlichen Denkweise niemals eingetreten. Ursprünglich für den Fall des Angriffs der Sowjetunion auf einen Mitgliedsstaat geschaffen, hat sich durch die NATO-Osterweiterung vor allem die russische Föderation zum neuen möglichen Feindbild dieser Doktrin entwickelt und soll vor allem die osteuropäischen Staaten, die Mitglied der NATO sind, vor einem Angriff schützen.
Das Prinzip hinter dem Bündnisfall ist also wie das Prinzip der NATO selbst: Der Angriff auf ein Mitgliedsland des Paktes wird als ein Angriff auf das Territorium eines jeden Mitgliedsstaates gesehen. Das gilt bis heute als eine effektive Abschreckung von Aggressoren selbst bei kleineren Staaten wie dem Baltikum. Da ein Angreifer damit rechnen muss, dass auch Atommächte wie die USA, Frankreich oder Großbritannien sich durch die Beistandsklausel angegriffen sehen, würde diese eine erheblich stärkere militärische Intervention nach sich führen. Im schlimmsten Fall kann dies bis zum Einsatz von Atomwaffen eskaliert werden.
Der NATO-Bündnisfall in der Realität und den Überlegungen
Während das Papier dieser Verträge recht ergiebig ist, ist es natürlich so, dass dieser Bündnisfall in seiner klassischen Form nie ausgelöst wurde. Im Kalten Krieg kam es nie zu direkten Angriffen auf das Territorium der NATO-Staaten – wenn, dann wurden Konflikte über Stellvertreterkriege in anderen Teilen der Welt ausgelebt. Dadurch kann die tatsächliche Dynamik des Falls auch bisher nicht wirklich bewertet werden. Es gab allerdings eine Situation, in der der Bündnisfall zumindest in einer erweiterten Form durch die Mitglieder ausgerufen wurde.
Nach dem 11. September präsentierten die Amerikaner Beweise für gezielte Terrorangriffe durch die Al-Qaida in Afghanistan auf ihr Territorium. Nach umfassenden Beratungen wurde der Bündnisfall mit Einschränkungen ausgerufen. Auch die Operation Enduring Freedom in Afghanistan wurde auf diese Weise mit dem NATO-Bündnisfall nicht nur erklärt, sondern auch direkt verbunden. Auch bei den Anschlägen in Frankreich 2015 gab es Überlegungen, ob es sich hier um einen Bündnisfall im Sinne der NATO handelt.
Wie fragil das Gebilde, besonders mit dem stetigen Wachstum der NATO, ist, zeigt auch die Situation in der Türkei. Da die Türkei in Nordsyrien als ein Aggressor aufgetreten ist, gab es durchaus Befürchtungen, dass ein möglicher Gegenschlag durch die Syrer automatisch zu einem Bündnisfall werden könnte. Da dieser Fall aber nie eingetreten ist und die Offensive der Türkei recht schnell beendet war, führte dies nur zu theoretischen Überlegungen über das Szenario, was eigentlich passiert, wenn ein NATO Staat selbst Angriffe auf sein Territorium durch eine Offensive provoziert.
Darüber hinaus gibt es in den letzten Jahren Überlegungen, auf welche Weise der Bündnisfall sich auf die neuen Realitäten in der Sicherheitspolitik der Welt anwenden lässt. Besonders das Thema der Cyberangriffe rückt in den Fokus. Während die Beistandsklausel eigentlich für konventionelle oder atomare Kriege ausgelegt ist, können Cyberangriffe heute auch als eine Kriegserklärung verstanden werden, da diese ebenfalls in der Lage sind deutlichen Schaden in einem Land anzurichten. Nach Aussagen des NATO-Generalsekretärs Stoltenberg im Zuge der russischen Invasion in der Ukraine würde die NATO auch Cyberangriffe als einen möglichen Angriff auf das Territorium von Mitgliedsstaaten und somit einen Auslöser für den NATO-Bündnisfall sehen.
Der theoretische Ablauf nach dem Ausrufen des Bündnisfalls
Es ist der NATO-Rat, der im Zweifel feststellt, ob ein Bündnisfall nach Artikel 5 eingetreten ist. In diesem Fall werden die Mitgliedsstaaten informiert, die dann, entsprechend nationaler Gesetzgebung, agieren müssen. In Deutschland könnte theoretisch schnell agiert werden, wenn eine gewisse Dringlichkeit vorliegt. Allerdings müsste man sich dann rückwirkend die Erlaubnis vom Bundestag holen, um entsprechend des Bündnisfalls zu agieren.
Je nach Szenario würde es zu einer Mobilmachung der Bundeswehr kommen. Entsprechend der Kapazitäten würden Truppen in das Einsatzgebiet verlagert, wobei davon auszugehen ist, dass in einem Krisenfall bereits schnelle Einsatzgruppen vorhanden sind. Die Amerikaner würden über den Stützpunkt in Ramstein aktiv werden und beispielsweise ein Land in Osteuropa mit Truppen versorgen. Deutschland würde sich recht schnell als Kriegspartei in einem Konflikt befinden, wobei der Umfang des Konflikts wohl darüber entscheiden würde, ob auch ein Angriff auf das eigene Territorium droht.
Der Bündnisfall sieht eine aktive Verteidigung vor, wobei auch der Einmarsch in das Land des Aggressors zu einer Beendigung möglicher Aggressionen vorgesehen wird. Schließlich sind es auch der NATO-Rat und der Bundestag, die darüber entscheiden, ob der Bündnisfall wieder beendet wird.
Der Sonderfall der Beistandsklausel in den EU-Verträgen
Die NATO hat sich zwar inzwischen über einen großen Teil von Europa erstreckt, es sind aber nicht alle Mitgliedsländer tatsächlich im Nordatlantikpakt. Besonders prominent sind hier Österreich, Schweden und Finnland. Finnland sieht sich aufgrund der gegenwärtigen geopolitischen Lage ebenfalls durch die russische Föderation bedroht und könnte ein neues Mitglied in der NATO werden. Bis dahin sind diese drei (und Zypern, Malta und Irland als weitere Staaten) Länder aber durch Artikel 42 Absatz 7 der EU-Verträge von Lissabon ebenfalls in einer gewissen Weise zum Beistand verpflichtet.
Konkret sagt der Vertrag: „Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats schulden die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung, im Einklang mit Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen. Dies lässt den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten unberührt.“
Das kann im Zweifel auch bedeuten, dass diese Unterstützung bei dem Angriff auf ein EU-Land nicht in militärischer, sondern in wirtschaftlicher Form zu erfolgen hat. Auch mögliche Sanktionen durch die EU sind zu unterstützen und umzusetzen. Dabei wird im weiteren Teil von Artikel 42 Absatz 7 auch wieder Bezug auf die NATO genommen, die aufgrund ihrer Verbreitung weiterhin der wichtigste Bestandteil der Verteidigung in militärischer Hinsicht ist.