Die Tang Ping Bewegung (躺平, auch nach der chinesischen Übersetzung lying flat genannt) ist gleichzeitig eine soziale Protestbewegung und ein neuer Lifestyle in China. Sie wurde zuerst im April 2021 beobachtet. Ihre Anhänger lehnen den typischen chinesischen Überlastungsdruck im Berufsleben ab und entscheiden sich stattdessen für ein minimalistisches, aber entspannteres Leben. Sich flach hinlegen ist eine Metapher für diese Haltung.
Was ist die lying flat / Tang Ping Bewegung? Bedeutung, Definition, Erklärung
In China praktizieren etliche Unternehmen ein 996-Stunden-Arbeitssystem (996-工作制), das von den Beschäftigten wie ein Rattenrennen mit immer weniger Ergebnis empfunden wird, das es in der Tat auch ist. Die Mitarbeitenden arbeiten rund 14 Wochen lang an sechs Tagen pro Woche zwischen 09:00 und 21:00 Uhr, mithin regulär 72 Stunden pro Woche, was abzüglich einiger Pausen zu 996 Arbeitsstunden während dieser Phase führt.
Vor allem chinesische Internetfirmen praktizieren dieses System, das auch in China selbst auf scharfe Kritik stößt und nicht durch das chinesische Arbeitsrecht gedeckt ist. Schon 2019 startete auf GitHub ein Protest dagegen, wenig später anerkannte eine offizielle chinesische Studie die Existenz dieses Systems und bezeichnete es als exzessive Arbeitskultur.
Allerdings gibt es in China wie auch in anderen asiatischen Staaten eine lange Tradition, die Beschäftigten mit endlosen Überstunden zu überlasten. Dies führt zu körperlichen und psychischen Beschwerden. Schon im Jahr 2013 stellte die staatliche chinesische Publikation People’s Daily fest, dass in der chinesischen IT-Branche 98,8 % aller Beschäftigten über gesundheitliche Probleme infolge beruflicher Überlastung klagen.
Es kommt zu zahlreichen Todesfällen infolge von Suizid und Unfällen. Dabei fußt die moderne Sklaverei in China sogar auf der konfuzianischen Kultur des Gehorsams. Das chinesische Arbeitsrecht sieht jedoch eine durchschnittliche 44-Stunden-Woche vor, wobei Überstunden selbstverständlich wie überall auf der Welt erlaubt sind. Sie sind aber auf drei Stunden täglich limitiert, und dies auch nur bei besonderen Anforderungen des Unternehmens. Das Monatslimit liegt bei 36 Stunden.
Beim 996-System sind es in der betreffenden Phase rund 120 Stunden pro Monat mehr. Die Überstunden werden wie in anderen Staaten höher vergütet (in China: mit mindestens 150 % des regulären Lohnes), doch darauf legen die überforderten Beschäftigten immer seltener Wert. Sie wünschen sich stattdessen mehr Freizeit.
Wie wird Tang Ping / lying flat praktiziert?
Die Anhänger von Tang Ping gehen nicht in einen Park und legen sich auf den Boden, jedenfalls sind entsprechende Beobachtungen nicht bekannt. Sie nehmen stattdessen eine gleichgültigere Haltung zum Leben an und dabei auch erhebliche Verluste in Kauf. Auf dem chinesischen Arbeitsmarkt gibt es noch nicht so viele lukrative Jobs, dass Mitarbeitende einfach zu einer anderen Firma mit besseren Arbeitsbedingungen wechseln können. Sie finden sich dann häufig in prekären Beschäftigungsverhältnissen wieder.
Tang Ping ist aber auch ein Lifestyle, der ganz allgemein die chinesische Gesellschaft erfasst hat und von einigen Beobachtern als eine Art verspätete Hippie-Bewegung betrachtet wird. Im Grunde würde sie sogar in die Zeit passen: Die westliche Hippie-Bewegung fand während des Wirtschaftsbooms ab den 1960er Jahren statt. Einen ähnlichen Boom erlebt gerade China, nur mit einem halben Jahrhundert Verspätung.
Bedeutung von Tang Ping / lying flat
Nach Auffassung des Schriftstellers Liao Zenghu ist Tang Ping eine Widerstandsbewegung mit latentem politischem Anstrich, nach Auffassung der New York Times gehört es zu einer sich neu bildenden chinesischen Gegenkultur. Die US-amerikanischen Autoren ziehen noch ganz andere, sehr moderne Parallelen: Sie vergleichen Tang Ping mit der Great Resignation in Nordamerika, also einer Kündigungswelle vonseiten der Beschäftigten, die ebenfalls über Arbeitsüberlastung klagen. In diesem Sinne wäre das chinesische Pendant relativ unpolitisch zu deuten und nur ein Zeichen der global überhitzten Arbeitswelt, auch wenn die nordamerikanischen nicht mit den chinesischen Verhältnissen zu vergleichen sind.
Aus Japan wurden Suizide wegen Arbeitsüberlastung schon in den frühen 2000er Jahren gemeldet. Tang Ping steht international aber mehr im Fokus. Das National Language-Resources Monitoring and Research-Center des chinesischen Bildungsministeriums hat zu dem Phänomen Untersuchungen angestellt und das Wort Tang Ping im Jahr 2021 unter den zehn beliebtesten Memes im chinesischen Internet gelistet. Die chinesische Suchmaschine Sogou führt das Wort sogar auf Platz 1 der trendigsten Memes im Jahr 2021.
Abgrenzung zu verwandten Bewegungen
Der Vergleich mit der US-amerikanischen Hippie-Bewegung ist unzulänglich, denn im Gegensatz zu den Hippies fallen Anhänger von Tang Ping in der Öffentlichkeit kaum auf und geben auch keine esoterischen Statements ab. Sie reduzieren nur ihr Arbeitspensum und sind dann gezwungen, minimalistisch zu leben. Ein weiterer Vergleich könnte mit den japanischen Hikikomori angestellt werden. Diese isolieren sich sozial für mindestens sechs Monate und manchmal über Jahre (aus ähnlichen Gründen wie die Chinesen), doch die chinesischen Überstundenverweigerer ziehen sich sozial nicht zurück. Sie reduzieren nur drastisch ihre beruflichen und damit auch finanziellen Ambitionen.
Trotz abgesenkter Lebensziele arbeiten sie aber überwiegend weiter für ihren eigenen Lebensunterhalt. Ihre Prämisse lautet fortan, ihre eigenen Bedürfnisse über ein etwas besseres Einkommen zu stellen. Die Bewegung Tang Ping hat offenkundig im Jahr 2022 das silent cessation (in etwa: stilles Aufhören) in den USA inspiriert. (Siehe: Quiet Quitting) Damit reagieren US-Arbeitnehmer*innen auf einen zu hohen Arbeitsdruck, indem sie nur noch die nötigsten Arbeiten erledigen und keinerlei Eigeninitiative mehr ergreifen. Sie bleiben aber in der Firma. In Deutschland ist dieses Verhalten schon länger als innere Kündigung oder Dienst nach Vorschrift bekannt.
In China gibt es noch eine weitere mit Tang Ping verwandte Bewegung namens Bai Lan (摆烂), das so viel wie „lass es verrotten“ bedeutet. Damit ist gemeint, dass die Protagonisten die Verschlechterung einer Situation aktiv annehmen und keinerlei Versuche unternehmen, den negativen Trend umzukehren.
Wann ist Tang Ping entstanden?
Obwohl darüber erst im Frühjahr 2021 berichtet wurde, soll die Bewegung bemerkenswerterweise etwa Anfang 2020 kurz nach dem Ausbruch der Coronapandemie entstanden sein. Möglicherweise verschärften zu diesem Zeitpunkt chinesische Firmen auf ihre Mitarbeitenden, die pandemiebedingt ins Homeoffice gezwungen wurden, den Arbeitsdruck, weil sie im Büro nicht mehr zu überwachen waren.
Der erste Publizist, der sich im Netz zu Tang Ping äußerte, soll der 26-jährige Programmierer Luo Huazhong gewesen sein, der dazu im Onlineforum Baidu Tieba etwa geschrieben hatte. Er hatte seinen Job gekündigt, war dann mit dem Fahrrad zunächst 2.100 km nach Tibet und danach in seine Heimat gefahren und schlägt sich jetzt mit Gelegenheitsjobs für rund 60 US-Dollar monatlich durch.
Programmierer verdienen in China rund 1.000 Dollar monatlich, bei den beschriebenen Überstunden auch deutlich mehr. Luo Huazhong liest in seiner Freizeit philosophische Schriften und hat seine Ernährung auf zwei Mahlzeiten pro Tag reduziert. Er wohnt in einem winzigen Zimmer bei Verwandten. Wahrscheinlich deshalb vergleicht er sich gern mit Diogenes in seiner Tonne.