Der Begriff „Systemrivale“ wird vorrangig im politischen Kontext benutzt: Demnach sind Staaten Rivalen zum eigenen System, wenn sie um die gleichen Ressourcen, Märkte und Einflussbereiche mit einem annähernd gleichen Potenzial konkurrieren. Diese Rivalität führt zu Spannungen, die sogar zu kriegerischen Auseinandersetzungen führen können, aber nicht müssen. Ein gutes Beispiel liefert aus Sicht der EU und der USA der Systemrivale China. Auch in anderen Zusammenhängen gibt es systemische Rivalitäten, wenn sich etwa zwei Kandidaten mit fast identischen Voraussetzungen um denselben Job oder zwei Firmen um denselben Auftrag bewerben.
Der Systemrivale China
Am Beispiel von China lässt sich am ehesten veranschaulichen, wie eine systemische Rivalität beschaffen ist. Die Europäische Union bzw. ihre Kommission betrachtet seit einigen Jahren das Reich der Mitte als Systemrivalen. Die EU-Außenminister unterstützen einhellig diesen Gedanken. Diese Position vertritt die EU spätestens seit 2010. Sie hat sich noch mehr verfestigt, seit China ab 2013 den Ausbau der neuen Seidenstraße vorantrieb und seit 2022 mit aggressiver Rhetorik darauf verweist, dass es keine Alternative zur Wiedereingliederung von Taiwan gibt, die man nötigenfalls auch militärisch durchsetzen werde.
Gleichzeitig bleibt China ein wichtiger Verhandlungs- und Wirtschaftspartner der EU. Deutsche Autokonzerne erwirtschaften teilweise bis zu 30 % ihres Gesamtumsatzes auf dem chinesischen Markt. Auch als Lieferant von Vorprodukten bleibt China unverzichtbar. Das ist das typische an Rivalen: Sie verfügen über Fähigkeiten, die sich durchaus nutzen lassen. Sie konkurrieren aber auch wirtschaftlich um Märkte und eine technologische Führungsposition. Im Falle von China kommt noch hinzu, dass Peking alternative Modelle der Governance fördert. Hohe chinesische Beamte, die schon häufiger auch bei EU-Ratstagungen zu Gast waren, bestätigen den Ansatz prinzipiell. So räumte vor einigen Jahren der chinesische Außenminister Wang Yi auf einer dieser Tagungen ein, dass sein Land und die EU in einem „gewissen Wettbewerb zueinander“ stünden. Er betonte gleichzeitig die gegenseitigen Vorteile einer engen Kooperation vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet.
Besorgnis in der EU
Hochrangige EU-Diplomaten und -Beamte waren schon vor Jahren besorgt über eine mögliche Zusammenarbeit von chinesischen Unternehmen mit den Pekinger Geheimdiensten. Dabei steht besonders der Telekommunikationsriese Huawei im Fokus, der in den USA inzwischen strengsten Restriktionen unterliegt. Wang hatte vor einiger Zeit die Europäer dazu aufgerufen, nicht dem US-Vorbild zu folgen. Huawei solle weiter Zugang zu europäischen Märkten erhalten. Der chinesische Außenminister bezeichnete die Anschuldigungen gegen das Unternehmen als unbegründet und politisch motiviert. Doch die Verdachtsmomente gegen Huawei haben seither eher noch zugenommen. Eine Verweigerung der hiesigen Märkte oder zumindest bestimmter Teilmärkte (wie etwa dem LTE-Ausbau) wäre auch aus wirtschaftlicher Sicht zu begründen, denn europäische und amerikanische Unternehmen haben es ihrerseits auf dem chinesischen Markt ebenfalls sehr schwer. Sie unterliegen einerseits Zugangsbeschränkungen und müssen andererseits einen erzwungenen Technologietransfer hinnehmen.
Verhandlungen über die systemische Rivalität
Typischerweise lässt sich mit einem Systemrivalen durchaus verhandeln, solange die Fronten nicht verhärtet sind. Es geht um Rivalität, mithin um Konkurrenz, die bekanntlich das Geschäft belebt, aber nicht unbedingt um Feindschaft. In den vergangenen Jahren hatten Vertreter der EU und Chinas immer wieder betont, dass sie positiv und freundlich miteinander diskutieren und strittige Punkte herausarbeiten wollten, um diese dann in Verhandlungen zu bereinigen. Die beiderseitigen Beziehungen sollten demnach fair, respektvoll, ausgewogen und gegenseitig vorteilhaft bleiben. Allerdings lösen sich die Intentionen solcher Statements spätestens seit dem Ausbruch des Ukraine-Krieges und der nachfolgenden engeren Bindung zwischen China und Russland allmählich in Luft auf. Es droht eine Verschärfung der Rivalität bis hin zur offenen Feindschaft.
Schon in den letzten Jahren hatte die EU ihre Haltung gegenüber China verschärft. So wurden Handelsschutzinstrumente durch die europäische Seite verstärkt, um den chinesischen Staatssubventionen entgegenzuwirken. Auf Drittmärkten etwa in Afrika und Asien, wo chinesische und europäische Unternehmen direkt miteinander konkurrieren, will die EU-Kommission die Beschaffungsinstrumente so gestalten, dass EU-Firmen durch gemeinsame Einkäufe einen höhere Verhandlungsmacht erzielen. Diese Intention hat sich seit dem Ausbruch der Energiekrise im Jahr 2022 noch deutlich verstärkt. Ein Beispiel ist der angestrebte EU-Gaspreisdeckel. Ob sich die Europäer damit durchsetzen, bleibt indes abzuwarten: Der Systemrivale China könnte auf dem Weltmarkt einfach höhere Preise für das Gas anbieten und damit die einheimische Wirtschaft stärken, während europäische Unternehmen mangels Gas schlimmstenfalls die Produktion drosseln müssen.
Wer hat bei der systemischen Rivalität die Nase vorn?
Auch wenn es Europäer nicht gern wahrnehmen wollen: Es sieht derzeit so aus, als ob China durchaus das Rennen machen könnte. Schon seit Jahren liegt das Handelsdefizit gegenüber China bei über 20 Milliarden Euro, derweil Peking die eigene Wirtschaft gegen ausländische Investoren vielfach abschirmt. Zwar kommen aus China immer wieder Versprechungen, dass sich das ändern soll, doch diese sind mangels nachfolgenden Taten unglaubwürdig. Die Europäer trifft das hart, hielten sie doch über Jahrzehnte ihr eigenes Wirtschaftssystem für deutlich überlegen. Die Chinesen räumen ein, dass sie zu ökonomischen Fragen teilweise ganz andere Ansichten vertreten, die den ohnehin unvermeidlichen Wettbewerb noch verschärfen könnten. Auf den Punkt gebracht: Protektionismus ist aus chinesischer Sicht völlig normal, während die Europäer ihn am liebsten ganz abschaffen würden und die USA ihn bedarfsweise (so unter Donald Trump) einsetzen. Der moralische Zeigefinger nutzt nur den Europäern nicht viel. Protektionisten können durchaus wirtschaftliche Vorteile erlangen. Bei China sieht es aktuell so aus.
Rivalität und Kooperation
Zu einer gesunden, nicht feindseligen Rivalität gehört in Teilen immer auch Kooperation. So sind sich die EU und China bei umweltpolitischen Themen weitgehend einig, in der Geopolitik gibt es viele positive Anknüpfungspunkte. China will genau wie die EU ein iranisches Atomabkommen, will den Klimawandel bekämpfen, fördert stark die Elektromobilität, strebt eine nachhaltige Entwicklung an und unterstützt auch heute noch (2022) prinzipiell eine multilaterale, regelbasierte Weltordnung. Die WHO wollen China und die EU gemeinsam reformieren. Die außenpolitische Haltung gegenüber Staaten wie Nordkorea, Venzuela und Afghanistan ist nahezu deckungsgleich. Auch wenn China der wichtigste Handelspartner Nordkoreas ist, befürwortet es keineswegs dessen militärische Muskelspiele. Am Fall von Putins Russland könnten sich nun allerdings die Geister scheiden. Chinesische und russische Truppen führten im September 2022 das gemeinsame Militärmanöver Wostok 2022 durch, was westliche Militärs und Diplomaten mit großer Sorge betrachteten. Schon werden Befürchtungen laut, dass aus einer gesunden systemischen Rivalität doch eine Feindschaft werden könnte.