Der Begriff „Tugendterror“ wurde in Deutschland durch das 2014 erschienene Buch „Der neue Tugendterror“ von Thilo Sarrazin populär (siehe weiter unten). In der jüngeren Geschichte etwa seit den 1960er-Jahren lässt er sich als Antipode zur Political Correctness verstehen, doch der Diskurs über vermeintlich zu ausgeprägte Tugendhaftigkeit und einer „terrorisierenden“ Forderung nach ihr lässt sich mindestens bis zur Christianisierung im frühen 1. Jahrtausend zurückverfolgen. Darauf geht auch Sarrazin ein.
Was ist „Tugendterror“? Bedeutung, Definition, Erklärung
Die moderne intellektuelle Rechte versteht darunter eine terrorisierende Forderung nach Political Correctness. Diese Forderung werde von den Mainstream-Medien regelmäßig vorgetragen und dementsprechend von linken Parteien (SPD, Linke) und auch von den Grünen missbräuchlich als geistige Munition gegen abweichende Meinungen verwendet. Abweichende Meinungen sind nach Auffassung der genannten Protagonisten intellektuell rechte Meinungen. Das ist die in Deutschland vorherrschende Meinung zum „Tugendterror“.
Im Allgemeinen bedeutet Tugendterror, dass politische Gewalt gegen eine Person oder Gruppe durch höhere Moral legitimiert wird.
Schauen wir über den Tellerrand, zum Beispiel in die Schweiz.
„Tugendterror“ und Political Correctness aus Schweizer Sicht
Die Neue Zürcher Zeitung erwähnt im Jahr 2014 – zeitgleich mit dem Erscheinen von Sarrazins Buch – den Schweizer Publizisten Johannes Willms, der den Tugendterror aus der Französischen Revolution von 1789 ableitet. Während dieser Revolution führte die Forderung nach Tugendhaftigkeit zu tatsächlichem Terror, nämlich dem massenhaften Einsatz der Guillotine gegen Adlige und politisch Andersdenkende. Wieder andere Schweizer Autoren verstehen den apodiktischen Vortrag eines neuen „Tugendterrors“ als Reaktion der Rechten auf die Political Correctness, die ab den 1960er-Jahren von den nordamerikanischen Bürgerrechtsbewegungen im Allgemeinen, den US-Universitäten im Besonderen ausgerufen worden war. Den Rechten, so die vorherrschende Meinung liberaler Publizisten, passe die moralpolitische Beurteilung der Sprache und des Verhaltens nicht. Sie fühlen sich terrorisiert, wenn jeder Ansatz von (vermeintlich) diskriminierenden Äußerungen im Keim erstickt werde. Bis heute (2020) führen die Rechten hierfür auch sehr populistische Beispiele an, die in der Tat überzogen wirken. Wenn etwa eine Mohrenapotheke und eine Mohrenstraße umbenannt werden sollen und es den Negerkuss nicht mehr geben soll, schütteln auch mittig bis links orientierte BürgerInnen manchmal heimlich den Kopf.
Bedeutung: Wie konnte sich der Begriff „Tugendterror“ etablieren?
Der Begriff wurde wiederum in den USA ab den 1990er-Jahren durch die dortige intellektuelle Rechte geprägt. Bis in den deutschen Sprachraum drang er lange nicht vor. Die US-Konservativen verwendeten ihn als Kampfbegriff, um ein geistiges Bollwerk gegen den ihrer Meinung nach falschen liberalen Multikulti-Mainstream zu schaffen. Als Übeltäterin entlarvten sie eine „Gleichheits-Religion“, die für all die unbehaglichen Veränderungen der Gesellschaft ab den 1960-er Jahren verantwortlich war. Indem man sie als „tugendterroristisch“ abstempelte, diskreditierte man sie. Dagegen wehrte sich die Gesellschaft heftig, und zwar nicht nur pur linke Parteien. Die SPD, heute längst eine Partei der (linken) Mitte, schloss Thilo Sarrazin im Jahr 2020 aus ihren Reihen aus.
Wie fasst Sarrazin den Tugendterror auf?
Sarrazins Buch „Der neue Tugendterror“ behandelt laut Subheadline die „Grenzen der Meinungsfreiheit“ hierzulande. Sarrazin bezieht sich ausdrücklich auf Deutschland. Immerhin traf der Autor einen Nerv, sein Buch landete auf Platz 1 der SPIEGEL-Bestsellerliste. Es behandelt nicht nur den Tugendterror, also die verschärfteste Form des vermeintlichen Unterdrückens abweichender Meinungen, sondern auch den von Sarrazin so beobachteten linksliberalen „Meinungskonformismus“. Diesen würden seiner Meinung nach die deutschen Medien penetrant durchsetzen. Mit dieser Aussage entlarvt sich übrigens der Autor selbst, denn konforme, mehrheitsfähige Meinungen zu verbreiten ist kein Hauptanspruch liberaler oder linker Medien, sondern eher des konservativen Journalismus, wie ihn beispielsweise die BILD-Zeitung vertritt. Doch Thilo Sarrazin wich bekanntermaßen von seiner Meinung nicht ab, stritt sich mit seiner Partei (der SPD) bis aufs Messer und wurde von ihr schließlich nach jahrelangem Hickhack geschasst. Schauen wir uns seinen „Tugendterror“ im Detail an.
14 Axiome des deutschen Tugendwahns laut Sarrazin
Sarrazin folgt im Grunde einem Artikel von Alexander Gauland, den dieser im Jahr 2012 im „Tagesspiegel“ veröffentlicht hatte („Das politisch korrekte Deutschland“). Gauland war damals noch CDU-Mitglied, die AfD gab es noch nicht. Auf diesen Artikel bezieht sich Sarrazin ausdrücklich. Gauland beklagt in diesem Artikel, dass vom Mainstream abweichende Meinungen zunehmend mit moralisierendem Anspruch ins Aus gedrängt würden. Diesen Gedanken greift Sarrazin auf, um den Begriff der Meinungsfreiheit generell zu untersuchen. Dabei geht er in die Geschichte bis zur Christianisierung zurück: Tugendterror habe demnach schon die Inquisition betrieben, die Grenzen der Meinungsfreiheit vs. Machtausübung wurden in der Renaissance schon von Alexis de Tocqueville und Niccolò Machiavelli beschrieben. Vom wahren Terror der Inquisition über die eher philosophische Betrachtung der Machtausübung durch Machiavelli zieht Sarrazin eine gerade Linie zu seinen „14 Axiomen des gegenwärtigen Tugendterrors“, mit welchen seiner Meinung nach die linksliberalen Mainstream-Medien aufwarten:
- #1: Gleichheit ist gut (demnach Ungleichheit schlecht).
- #2: Streben nach Leistung ist fragwürdig.
- #3: Reiche sollen sich schuldig fühlen.
- #4: Unterschiede in den Lebensverhältnissen werden durch Umstände, nicht durch die Menschen selbst verursacht.
- #5: Menschliche Fähigkeiten basieren ausschließlich auf Bildung und Erziehung (nicht auf Veranlagung).
- #6: Es gibt keine genetischen Unterschiede zwischen Völkern und Ethnien.
- #7: Alle Kulturen haben den gleichen Stellenwert. Das christliche Abendland und die westlichen Industriestaaten sind keine überlegenen Formen.
- #8: Der Islam bereichert Europa und Deutschland. Überdies ist er eine friedliche Kultur.
- #9: Westliche Industriestaaten tragen die Hauptverantwortung für die Rückständigkeit der Dritten Welt.
- #10: Männer und Frauen sind (geistig) gleichwertig.
- #11: Das klassische Familienbild ist obsolet. Kinder brauchen nicht Mutter und Vater.
- #12: Der Nationalstaat ist heute überflüssig. Wir sind auf dem Weg zur Weltgesellschaft.
- #13: Alle Menschen sind gleich, weshalb sie alle die Grundsicherung unseres deutschen Sozialstaates beanspruchen dürfen.
- #14: Einwanderung löst unsere demografischen Probleme.
Was ist an diesen Axiomen falsch?
Sie sind pure Demagogie, deshalb hat die SPD Thilo Sarrazin ausgeschlossen. Das Wesen jeder Demagogie besteht darin, Halbwahrheiten, Selbstverständlichkeiten, Phrasen, Propaganda und pure Lügen miteinander zu vermischen. Diese 14 Axiome sind ein klassischer Fall von Demagogie, Joseph Goebbels hätte es nicht besser gekonnt. Dieser beschrieb seine Propagandastrategie Mitte der 1930er-Jahre mit den Worten: „Wer viele Menschen führen will – einheitlich führen will! -, der darf sich nicht nach dem Niveau des Klügsten, nein, er muss sich nach dem des Dümmsten richten!“
„Was ist an diesen Axiomen falsch? Sie sind pure Demagogie“
Einfach so stehengelassen, ohne Erklärung. So kann man natürlich auch kritisieren. Dass man sich dabei auch – frei nach Goebbels – nach dem Dümmsten richtet, ist dann aber wohl in Ordnung.
Gut erkannt Nina – es fehlt jegliche Begründung warum die Meinung grundfalsch und demagogisch ist – das ist intellektuell gesehen sehr schwachbrüstig…