Bei der Selbstgerechtigkeit geht es um eine vermeintliche moralische Geradlinigkeit, die eine selbstgerechte Person nur sich selbst zuspricht, weil sie sie bei anderen grundsätzlich nicht erkennen kann. Diese Haltung beruht auf einer vergleichenden Sichtweise und einem oberflächlichen und verallgemeinernden Verständnis davon, wie gesellschaftliche Normen, Regeln und Werte einzuhalten sind. Eine selbstgerechte Person schließt von sich auf andere und fühlt sich dabei immer moralisch überlegen.
Selbstgerechtigkeit könnte ohne ein Gegenüber und ohne ein soziales Umfeld nicht existieren. Selbstgerechtigkeit braucht einen Spiegel. Eine Person kann nur dann selbstgerecht sein, wenn sie sich an anderen messen kann. Sie braucht gesellschaftliche Normen und Werte, um sich an diesen orientierten und sich selbst als Maßstab eines regelgerechten Verhaltens erkennen zu können. Erst dann kann sie sich gegen alle anderen absetzen und moralisch überlegen fühlen.
Das eigene Verhalten wird als grundlegend richtig betrachtet und deswegen zugleich auch verallgemeinert. Das Verhalten anderer wird mit dem eigenen, vermeintlich allgemeingültigen und deswegen scheinbar einzig richtigen Verhalten verglichen. Wer sich anders verhält, verhält sich dieser Sichtweise entsprechend automatisch falsch, regelwidrig und unmoralisch.
Selbstgerechtigkeit braucht kontinuierliche Selbstbestätigung
Wer selbstgerecht ist, hält sich für moralisch überlegen, sittlich untadelig und ohne Fehler. Dass diese Haltung auf einer Illusion beruht, ist selbstredend, denn Menschen sind nicht perfekt. Dies wissen auch selbstgerechte Menschen, auch wenn sie es vor sich und anderen nicht zugeben können. Deswegen benötigen selbstgerechte Menschen permanente Bestätigung ihrer Annahmen über sich selbst. Diese zu finden, stellt kein Problem dar. Sie vergleichen sich einfach mit anderen und bemerken bei diesen ein Fehlverhalten. Dadurch werden sie in ihrer Meinung bestätigt, dass niemand moralisch und sittlich an sie heranreichen kann.
Möglicherweise verhält sich das Gegenüber tatsächlich aus moralischer Sicht fragwürdig. Ein unmoralisches Verhalten eines anderen rechtfertigt aber kein selbstgerechtes Überlegenheitsgefühl, denn Selbstgerechtigkeit sagt nichts über das eigene Verhalten aus. Es sagt lediglich etwas über die eigene Selbstsicht aus.
Selbstsicht vs. Fremdsicht
Die Selbstsicht mag positiv sein, die Fremdsicht wird aber vermutlich ganz anders ausfallen. Die Selbstgerechtigkeit aus der Selbstsicht:
- fühlt sich moralisch überlegen („lässt sich nie etwas zuschulden kommen“)
- hält sich für sittlich untadelig („überschreitet keine Regeln“)
- meint, die gesellschaftlichen Werte verteidigen zu müssen („wenn Werte nicht respektiert werden, ist die Gesellschaft verloren“)
- hält sich für absolut gesetzestreu („keine Geschwindigkeitsüberschreitungen, Schwarzarbeit oder Steuerbetrügereien“)
Die Selbstgerechtigkeit aus der Fremdsicht:
- es fehlt jegliche Selbstkritik („wer alles richtig macht, muss sich nicht ändern oder sein Verhalten infrage stellen“)
- ist resistent gegen jede Form von Kritik („wer Fehler macht, hat kein Recht zu kritisieren“)
- hält sich für unfehlbar, trotz offensichtlicher Fehler („wer eigentlich perfekt ist, darf auch mal Fehler machen“)
- findet Ausreden für Fehltritte und Fehlverhalten („ausnahmsweise“, „die äußeren Umstände“, „eigentlich immer, aber“, „normalerweise, aber“, „andere sind viel schlimmer“
Wortherkunft: Selbstgerechtigkeit
Das Wort Selbstgerechtigkeit ist ein Kompositum aus zwei zusammengesetzten Wörtern: Selbst und Gerechtigkeit. Das in dieser Form zusammengesetzte Wort ist seit dem späten 18. Jahrhundert in Deutschland nachweisbar. Auseinandergeschrieben, aber im gleichen Sinn verwendet, gibt es „Selbstgerechtigkeit“ nachweislich seit Mitte des 16. Jahrhunderts in der von Martin Luther im Jahr 1545 ins Deutsche übersetzten Bibel.
Der Begriff „Selbst“ dient eigentlich der Reflexion und Selbstbeobachtung mit dem Ziel, sich selbst besser verstehen und sich dadurch verbessern zu können. Der Begriff „Gerechtigkeit“ wiederum steht für eine Tugend und dient als Maßstab seines eigenen Verhaltens. Wenn also die Selbstbeobachtung dazu dient, sich selbst als gut genug oder sogar perfekt zu empfinden und sein Handeln dann als vergleichenden Maßstab andern gegenüber anzusetzen, wurden beide Begriffe in ihrem sinnhaften Kern verfehlt. Zusammengenommen ergibt sich daraus eine Selbstgerechtigkeit, die auf falschen Annahmen, falschen Anwendungen und falschen Erkenntnissen beruht.
Recht, Gerechtigkeit und Selbstgerechtigkeit
Das Adjektiv „gerecht“ stammt vom mittelhochdeutschen „gereht“ und dieses wiederum vom früheren althochdeutschen „geriht“ ab. Die Bedeutung war in allen Fällen: „gerade“, „geradlinig“ oder auch „rechtens“. Das moderne Wort „Gerechtigkeit“ ist eine Substantivierung dieses Adjektivs, ebenso wie das Wort „Recht“ eine Substantivierung des Adjektivs „recht“ ist. Dieses stammt von dem althochdeutschen und auch mittelhochdeutschen „reht“ ab. Es bedeutete „das Richtige, „Anspruch“ oder auch „Gesetz“. Zuständig für die Rechtsprechung sind Richter und andere dazu berufene Personen.
Ein selbstgerechter Mensch allerdings etabliert eine eigene „Rechtsprechung“. Er hält sich für berufen, über andere und über sich selbst urteilen zu können. Da ein solcher Mensch blind ist für seine Fehler, wird er keinen Grund finden, weshalb an ihm etwas zu kritisieren sein könnte. Er wird jegliche Kritik abweisen und Selbstkritik allenfalls seinem Gegenüber empfehlen. Schließlich sind es die anderen, die sich verbessern müssen. Ein selbstgerechter Mensch ist sich keiner Untadeligkeit bewusst, – und wenn sich doch einmal ein Fünkchen Skrupel auftut, wird es mit dem Blick auf die doch viel größeren Unzulänglichkeiten der Mitmenschen weggedrückt.
Justitia ist die römische Göttin der Gerechtigkeit. Sie steht heute für das Rechtswesen. Die Eigenschaften Justitias wandelten sich im Laufe der Zeit. Im Mittelalter und in der Neuzeit wurde aus der ausgleichenden Gerechtigkeit zunächst eine rächende, dann eine strafende Gerechtigkeit. Heute steht die Göttin symbolisch für die Justiz und wird mit einer Augenbinde, einer Waage und einem Richtschwert dargestellt. Die Augenbinde drückt aus, dass Recht gesprochen wird ohne Ansehen der zu richtenden Person. Die sich etwas neigende Waage zeigt an, dass im Zweifel Recht für den Angeklagten gesprochen wird und das Schwert verdeutlicht, dass das Recht mit der nötigen Härte durchgesetzt wird.
Die Gerechtigkeit eines Selbstgerechten ist nur blind gegen sich selbst und verhält sich nur sich selbst gegenüber neutral. Andere werden bewertet, abgeschätzt, kritisiert und kategorisiert. Die Waage neigt sich immer dem Selbstgerechten zu, denn falls Selbstzweifel vorhanden sein sollten, nimmt er immer den sogenannten Zweifelssatz in Anspruch: „In dubio pro reo“ (bedeutet: Im Zweifelsfalle ist der Beschuldigte unschuldig). Anderen gegenüber sind seine Ansichten klar und scharf formuliert. Es gibt nur Schuldige, denn im Vergleich zu ihm (sein Verhalten ist der Standard und insofern Maßstab) können andere nur versagen. Das Richtschwert wird ebenfalls ausschließlich in Richtung der anderen geschwungen. Wer einem Selbstgerechten begegnet, begegnet einer Justitia ohne Augenbinde und ohne Waage, aber mit einem beidhändig geführten Schwert.
Zusammenfassung: Was ist Selbstgerechtigkeit?
Ein selbstgerechter Mensch nimmt für sich selbst das Recht in Anspruch, über andere richten, sie bewerten und kritisieren zu dürfen. Grundlage dafür sieht ein solcher Mensch in seiner eigenen, aus seiner Sicht tadellosen und in jeder Hinsicht korrekten Verhaltensweise.
Das Richten, Bewerten und Kritisieren anderer funktioniert also, indem ein selbstgerechter Mensch andere mit sich selbst vergleicht und dabei sein eigenes Verhalten als moralischen Maßstab betrachtet. Im gleichen Schritt verallgemeinert er seine Meinung über sich selbst und betrachtet sein Verhalten als normativen Standard.
Ein selbstgerechter Mensch betrachtet sich als berufen, über andere zu richten und sich dabei auf sich selbst zu beziehen. Es ist nicht das öffentliche, allgemeine oder göttliche Recht, an dem ein solcher Mensch seine Mitmenschen beurteilt. Er beurteilt sie, indem er sie mit sich selbst vergleicht und dabei jedes einzelne Mal feststellt, dass niemand an ihn heranreicht und ihm in moralischer Hinsicht das Wasser reichen kann.