Freizeitstress entsteht durch Aktivitäten in der Freizeit, die eine sehr hohe Beanspruchung verursachen, durch bloßes Nichtstun, das ungewohnt und demotivierend ist, sowie durch die Intensivierung familiärer und partnerschaftlicher Kontakte über das Alltagsmaß hinaus. Letzteres tritt vor allem im Urlaub auf. Um Freizeitstress zu verstehen, müssen wir die generelle Entstehung von Stress und Motivation verstehen. Auch ist der kulturelle Begriff der Freizeit zu hinterfragen.
Freizeitstress durch zu viele Aktivitäten
Wir sind in unserer Freizeit oft sehr aktiv, treiben Sport, reisen und gehen einem interessante Hobby nach. Familien und Freunde unternehmen gern etwas miteinander. All das beansprucht uns, auch wenn es uns sehr motiviert. Sport und manch ein Hobby können für sich sehr anspruchsvoll sein. Wer einen Italienischkurs belegt, sich einem regelmäßigen Fitnessprogramm unterwirft und sich um seine Familie wirklich kümmert, hat damit übergenug zu tun.
Der Terminkalender kann mit Freizeitaktivitäten ausgefüllt sein. Auch hierbei kämpfen wir mit dem Straßenverkehr, mit kleinen sozialen Konflikten und der Auseinandersetzung mit anspruchsvollem Wissen oder körperlicher Belastung. Das muss Stress verursachen. Er kann sich dennoch von beruflichem Stress unterscheiden, zumindest dann, wenn der Beruf eher kein Traumjob ist. In früheren Jahrzehnten unterschied die Psychologie zwei Stressformen: sogenannten Eustress und Disstress.
Eustress sollte durch Euphorie, Disstress durch Disharmonie gekennzeichnet sein. Das war etwa in den 1970er- bis 1980er-Jahren, die Begrifflichkeiten haben sich nicht gehalten. Es war aber etwas dran: Beanspruchende Tätigkeiten können uns großen oder gar keinen Spaß machen und daher unterschiedliche Formen von Stress auslösen. Was man damals noch nicht richtig bedachte, ist die Tatsache, dass uns Stress in jeglicher Form belastet. Er greift ins hormonelle Gleichgewicht ein und kann körperliche Beschwerden verursachen. Hierfür kann es egal sein, ob uns die Tätigkeit, die ihn auslöst, Spaß macht oder nicht.
Davon abgesehen ist das auch gar nicht so einfach voneinander abzugrenzen. Wir können auf dem Weg zu einer höchst motivierenden Freizeitbeschäftigung in den Stau geraten, der uns fürchterlich stresst, während die Beschäftigung, zu der wir schließlich nicht verpflichtet sind, höchst motiviert. Was nun? Umdrehen und die Aktivität ausfallen lassen, um dem Stau zu entgehen? Oder sich im Auto schwarz ärgern, weil man den Anfang der schönen Aktivität garantiert verpassen wird? Hieran wird erkennbar, wie unser Stress auch mit der Motivationslage verbunden ist.
Freizeitstress durch Nichtstun
Auch Nichtstun kann Grübeleien und Stress auslösen. Zwar kennt kaum noch jemand das Wort Langeweile, doch wenn sie uns packt, kann sie fürchterlich stressen. Das kennen wir vom Urlaub, wenn wir nach dem anstrengenden Arbeitsjahr und den beanspruchenden Urlaubsvorbereitungen sowie der Reise das erste Mal am Strand liegen: Die ersten zehn Minuten sind noch wunderschön, doch dann stellt sich plötzlich die Frage: Was nun, was tun? Auch die Kinder nerven: Papa, was machen wir jetzt? Wir haben es verlernt, uns dem Nichtstun hinzugeben.
Das ist kein Wunder, denn normalerweise werden wir immer mehr mit Reizen überflutet und reagieren zwangsläufig auf sie. Unser Gehirn läuft ständig auf Hochtouren. Es ist schwer, einen Gang herunterzuschalten. Wenn das Gehirn nun plötzlich nicht mehr beschäftigt wird, denkt es sich den Stress quasi aus, auf den es programmiert ist. Ein Symptom dafür ist die Sorge, die jede/r Reisende kennt: Sobald wir im Auto oder im Flieger sitzen, fällt uns ein: Habe ich den Herd ausgeschaltet? Habe ich alles dabei? Schatz, sieh doch mal nach! Doch was machen wir mit dem Herd? Wollen wir umdrehen und das noch mal kontrollieren? Es entspinnt sich im Auto eine Diskussion darüber, wer zuletzt am Herd stand und dafür verantwortlich war, ihn wirklich auszuschalten. Manche Menschen haken auf einer Checkliste vor dem Verlassen der Wohnung alles ab: Herd abgestellt, Fenster geschlossen, alles eingepackt etc. pp. Die Cleveren unter uns fotografieren alles mit dem Smartphone, um sich später vergewissern zu können. Im Alltag übrigens, wenn wir früh ins Büro fahren, haben wir solche Gedanken nicht. Die Ursache hierfür ist Stress durch Nichtstun.
Bewertung von Freizeitstress: Was man dagegen tun kann?
Ein Problem mit dem Stress ist generell, dass er durchaus nicht durchweg negativ bewertet wird. Das hat zwei Gründe:
- #1: Ein gewisser Stress ist durchaus gesund. Unser Organismus – Körper wie Geist – ist auf An- und Entspannung programmiert. Daher ist auch regelrechtes Faulenzen für viele Menschen eher schädlich. Allerdings gibt es ein optimales Aktivitätsniveau, mit dem wir uns wohlfühlen. Hierin unterscheiden sich die Menschen freilich. Es ist eine große Kunst, dieses Niveau für sich selbst herauszufinden. Doch selbst wenn wir es gefunden haben, entsteht Stress vielfach durch äußere Umstände, denen wir uns nicht entziehen können. Das passiert auch in der Freizeit. Am Strand zum Beispiel können andere Badegäste nerven.
- #2: In den vergangenen Jahrzehnten wurde Stress positiv kultiviert. Filme stellen ständig Menschen dar, die unter höchster Anspannung und in blitzschneller Folge sagenhafte Kunststückchen vollbringen. Diese Kultur gibt es schon lange, doch die modernen Medien haben sie in unseren Alltag hineingetragen. Wenn wir nämlich eine Abfolge von Informationen als Stressoren definieren, dann ist unser Stresslevel auf einen Höchststand der Menschheitsgeschichte angestiegen. Noch nie haben Menschen so viele Inputs wie gegenwärtig aufgenommen. Das Internet beschießt unsere Neuronen mit Dauerfeuer. Viele der Informationen motivieren uns in höchstem Maße, sodass wir dieses Feuer meistens genießen. Aber kann das gesund sein?
Möglicherweise wird es Zeit, dass wir uns von dieser „Heroisierung“ des Stresses verabschieden. Sie entstand möglicherweise in der Nachkriegszeit, als das Wirtschaftswunder den Menschen angenehme und anspruchsvolle berufliche Aufgaben, mehr Einkommen und damit verbunden auch mehr Freizeitmöglichkeiten einbrachte.
Die Deutschen entdeckten damals Italien als beliebtestes Reiseland, bevor Mallorca diese Rolle übernahm, sie mussten nicht mehr ganz so viel arbeiten und konnten sich gleichzeitig mehr leisten, die Freizeitindustrie entstand. Sie zielte auf die Ressourcen der Menschen, und zwar nicht nur auf die finanziellen, sondern auch die zeitlichen und geistigen. Dies war möglicherweise die Phase, in der das neue Phänomen des Freizeitstresses entstand.
In der Menschheitsgeschichte ist es jung. Tourismus etwa gibt es erst seit dem 19. Jahrhundert, doch damals war er wenigen Wohlhabenden vorbehalten. Massentourismus entstand erst im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts, er ist noch keine 50 Jahre alt und geht Hand in Hand mit der sich entwickelnden Konsumgesellschaft. In dieser haben sich neue soziale Spielregeln etabliert. Das Image definiert sich über das Einkommen, die Position, ein wenig über das Auto (inzwischen wegen der Klimadiskussion rückläufig) und vielfach darüber, wo man im letzten Urlaub war und welches Reiseziel als nächstes geplant ist.
Wenn die Klimadiskussion auch diese Aktivität negativ bewertet, worauf es im Jahr 2021 hinausläuft, dürften die nächsten Imagemaker anspruchsvolle Freizeitaktivitäten wie Sport in einer gehobeneren Mannschaft, das Beherrschen mehrerer Sprachen oder das Mitwirken in einem klassischen Laienorchester sein. All das ist wiederum sehr anspruchsvoll, erfordert ein Höchstmaß an Aktivität und kann Freizeitstress verursachen. Erstaunlich, aber wahr: Echt leere Tage, an denen wir gar nichts vorhaben, gibt es kaum noch. Wenn aber so ein Tag „droht“, nehmen wir uns rasch etwas vor, denn die Furcht vor Langeweile (obgleich wir sie kaum noch kennen) ist allgegenwärtig: „Schatz, was machen wir am Wochenende?“ – „Ina und Tom wollten schon lange, dass wir sie mal besuchen. Oder melden wir uns endlich zum Squash an? Davon redest du schon ewig!“ – Ja, warum nicht einfach mal nachmittags einen Spaziergang unternehmen, danach faul auf der Couch sitzen und ein wenig durchs Fernsehprogramm zappen? Das haben wir scheinbar verlernt.
Nichtstun erwünscht: Freizeitstress verringern
Nichtstun beschränkt sich darauf, dass wir nichts tun. Auch das kann unser Körper, denn unsere Vorfahren lebten nicht so stressig wie wir. Sie verbrachten etwa zehn Stunden des Tages mit der Besorgung ihres Unterhalts, dann hatten sie Freizeit ohne Fernseher, Internet und Urlaubsreise. In dieser Zeit taten sie nichts. Es gibt heute noch Urgemeinschaften in entlegenen Weltgegenden, die so leben und durch Forscher beobachtet werden. Sie leben stressärmer und damit gesünder als wir. Viele Stunden sitzen sie beisammen und schwatzen, was uns auch gefällt, sich aber heute auf zwei Minuten Small Talk an der Kaffeemaschine im Büro oder am Gartenzaun mit dem Nachbarn reduziert. Heimlich schauen wir nämlich immer auf die innere Uhr: Was muss ich noch erledigen? Was könnte ich mit meiner kostbaren Freizeit anfangen?
Nichtstun würde bedeuten, dass wir zunächst die Uhr vergessen und die Zeit einfach vorbeiziehen lassen. Das würde auch bedingen, dass wir die Telefone abschalten und das Internet Internet sein lassen. Wie entspannend das sein kann, stellte sich beispielsweise Anfang Oktober 2021 heraus. Für viele Stunden fielen durch einen technischen Fehler Facebook und die mit ihm verbundenen Netzwerke Instagram und WhatsApp aus. Danach berichteten viele User weltweit, wie sehr sie es nach anfänglichem Schrecken genossen hatten, einmal keine Postings lesen zu können und auch nicht darauf reagieren zu müssen. Sollte uns das nicht zu denken geben? Wie schon eingangs erwähnt ist es offenbar der Informationsoverkill, der ganz erheblich zu unserem Freizeitstress beiträgt. Das bemerken wir ja beispielsweise bei der Planung einer Urlaubsreise: Es gibt so viele Möglichkeiten. „Schatz – wohin wollen wir in den Urlaub? Es gibt so viele Möglichkeiten. Huch, ist das ein Stress!“
Freizeit wörtlich genommen
Als Fazit sollten wir uns vornehmen, Freizeit wieder wörtlich zu nehmen. Es ist absolut freie Zeit. Furcht vor Langeweile brauchen wir nicht zu haben, denn es genügt ein Klick, um den Informationsschwall wieder ins Hirn zu lassen. Doch vielleicht laufen wir lieber doch eine kleine Runde durch den Wald.