Was ist Herrschaftswissen? Bedeutung, Definition, Erklärung

Was ist Herrschaftswissen, Bedeutung, Definition, Erklärung


Herrschaftswissen besteht aus Informationen, die Personen nur auf einer bestimmten Stufe der Macht erlangen. Sie können und werden diese Informationen nutzen, um ihre Macht in der Organisation, der sie vorstehen, zu festigen. Ein Kennzeichen von Herrschaftswissen ist seine begrenzte Verfügbarkeit. Menschen, die sich nicht in der betreffenden Führungsposition befinden, erlangen dieses Wissen normalerweise nicht. Die Herrschenden müssen dementsprechend genau bedenken, mit wem sie die sensiblen Informationen teilen.

Woher kommt das Herrschaftswissen?

Menschen in Führungspositionen erhalten Informationen aus verschiedenen Quellen und können sie zu einem größeren Bild zusammenfügen. Viele Informationen werden nur ihnen anvertraut, weil sie sehr sensibel und weder für die Öffentlichkeit noch für Mitglieder ihrer Organisation auf unteren Ebenen bestimmt sind. Nur die verantwortliche Führungspersönlichkeit kann und soll entscheiden, wie sie mit diesen Informationen umgeht.

Beispiele für Herrschaftswissen

Zunächst ist wichtig zu wissen, dass der allgemeine Begriff des Herrschaftswissens auf jede führende Position anzuwenden ist, auch wenn es nur um eine vergleichsweise kleine Organisation geht. Dementsprechend ließen sich unter anderem diese Beispiele nennen:

  • Ein Abteilungsleiter verfügt über das Herrschaftswissen, welcher Kollege gekündigt werden soll und welche Kollegin demnächst aufsteigen könnte. Mit diesem Wissen verteilt er die Arbeitsaufträge so, dass die bevorzugte Kollegin mehr, der Kündigungskandidat weniger gefördert wird. Dabei geht es auch um die Weitergabe von Informationen.
  • Der Präsident einer Atommacht verfügt über das Herrschaftswissen der Atomcodes.
  • Die Chefin einer NGO verfügt über das Herrschaftswissen, woher die Finanzierung ihrer Organisation exakt stammt und welche Aktionen damit demnächst möglich sind, deren Details bislang noch nicht in die Öffentlichkeit gelangen dürfen.
  • Zwei Firmenchefs verhandeln miteinander über einen wichtigen Deal. Nur sie kennen dessen Details genau. Der Deal wird die Stellung ihrer jeweiligen Unternehmen am Markt und vielleicht auch an der Börse beeinflussen. Daher müssen sie ihr Herrschaftswissen bis zum Abschluss und oft auch darüber hinaus für sich behalten.

Herrschaftswissen und Geheimpolitik

Mit Herrschaftswissen ist Geheimpolitik möglich, umgekehrt funktioniert Geheimpolitik nur mit Herrschaftswissen. Das geht sogar aus dem Begriff der Arkanpolitik (= Geheimpolitik) hervor, der sich vom lateinischen Arcana Imperii für „Geheimniss der Herrschenden“ ableitet. Diese Politik findet unter Ausschluss niederer Ränge und selbstverständlich der Öffentlichkeit statt.

Für Geheimpolitik kann es gute, sogar moralische Gründe geben, dennoch ist sie in Demokratien verpönt, wenngleich nicht auszuschließen. Der regierende Souverän kann damit immerhin seine Macht festigen. Ein Beispiel für Geheimpolitik in einem demokratischen Staat lieferte der österreichische Bundeskanzler a.D. Sebastian Kurz, der sich insgeheim geschönte Meinungsumfragen erkaufte und gegen den die Wiener Staatsanwalt ab 2021 aus diesen und weiteren Gründen Korruptionsermittlungen einleitete. Vermutungen zu Geheimpolitik gibt es viele, doch in den meisten Fällen bleiben es Vermutungen, weil diese Politik schließlich geheim praktiziert wird.

Geheimpolitik ist sogar ein staatsrechtlicher Begriff der beginnenden Neuzeit, es gab sie aber immer. Erwähnt wird sie unter anderem vom römischen Geschichtsschreiber Tacitus (58 – 120), Niccolò Machiavelli (1469 – 1527) griff sie in seiner ratio status auf. Aus der Geheimpolitik resultieren Geheimverträge, so die Zusatzprotolle zum Molotow-Ribbentrop-Pakt (Nichtangriffspakt von 1939 zwischen Nazideutschland und der Sowjetunion mit dem Zusatz, wie Polen zwischen den beiden Mächten aufzuteilen sei), der Globke-Plan von Konrad Adenauer, mit dem dieser 1958 durch seinen Staatssekretär Hans Globke Möglichkeiten der deutschen Wiedervereinigung skizzieren ließ, oder auch die geheimen Reichssachen der NSDAP, welche Pläne zur Vernichtung der Juden, Sinti, Roma und Anstaltspatienten enthielten.

Der italienische Rechtsphilosoph Norberto Bobbio (1909 – 2004) war der Auffassung, dass eine verselbständigte Bürokratie das Herrschaftswissen und die Geheimpolitik fördert. Eine ähnliche These verarbeitete Franz Kafka in seinem Roman „Das Schloss“ von 1922. Nach Bobbio wächst in einer verselbstständigten Bürokratie der Wirkungsraum der „arcana imperii“ ganz einfach deshalb, weil sich die im bürokratischen Dschungel verborgenen Informationen der Transparenz und damit der öffentlichen Wahrnehmung entziehen.

Niemand außer den Herrschenden hat die Ressourcen, sie zusammenzuführen und zu deuten. Damit bleiben sie oft selbst ohne vorsätzliche Geheimhaltung dennoch geheim. Wo jemand den Versuch der Aufdeckung unternimmt, interessiert sich die Öffentlichkeit vielfach nicht für die bürokratisch aufgeblasenen und verworrenen Informationen. Hierzu lieferte der deutsche Fernsehmoderator Jan Böhmermann (ZDF Magazin Royal) im Oktober 2022 ein eindrucksvolles Beispiel: Er ließ von Informanten möglicherweise aus dem Hessischen Verfassungsschutz die als geheim eingestuften NSU-Akten besorgen und veröffentlichen. Wer sie sich durchliest, gibt alsbald auf, zumal sie dem Laien kaum spektakuläre Informationen bieten. Sie enthalten aber echtes Herrschaftswissen.

Herrschaftswissen in demokratischen Gesellschaften

Die Frage, ob es in demokratischen Gesellschaften Herrschaftswissen und Geheimpolitik gibt, ist umstritten. Die Beispiel der Korruptionsaffäre um Sebastian Kurz und der NSU-Akten scheinen zu belegen, dass Demokratien mit diesen Phänomen leben müssen. Es existiert auch die Auffassung, dass diese in Diktaturen viel stärker verbreitet sind und es in Demokration höchstens Versuche des Staates gibt, die Demokratie zu unterhöhlen, dass die Demokratie aber am Ende trotz einzelner Auswüchse siegt. Diesen Optimismus teilen auch nüchterne Beobachter nicht immer. Als bedenklich gilt beispielsweise der Umgang mehrerer Staaten (USA, Schweden, Großbritannien, Ecuador) mit dem Wikileaks-Gründer Julian Assange, der mit seiner Plattform Herrschaftswissen aufgedeckt und sich damit mächtige Feinde gemacht hatte. Ihm droht in den USA eine Haftstrafe von bis zu 175 Jahren.

Philosophischer Ansatz von Max Scheler zum Herrschaftswissen

Der deutsche Philosophie Max Scheler (1874 – 1928) ordnete Herrschaftswissen in eine von drei höchsten Wissensformen ein. Die anderen beiden sind nach seiner Meinung das Bildung- und das Heils- bzw. Erlösungswissen. Scheler konnotiert allerdings Herrschaft auch mit der Beherrschung der inneren menschlichen Natur, wie sie in Asien gut entwickelt ist. Die Dominanz einer nach außen gerichteten Herrschaft unter Verwendung von Herrschaftswissen bezeichnet Scheler als europäisches Kulturdefizit. Seiner Auffassung nach soll zwischen beiden Formen des Herrschaftswissens ein Ausgleich stattfinden.

Herrschaftswissen in der Wissenschaft

Die Wissenschaftsforschung bezeichnet dasjenige Wissen, das aus einer „Herrschaftswissenschaft“ stammt, als Herrschaftswissen. Herrschaftswissenschaften stabilisieren den politischen und gesellschaftlichen Status quo. Dazu zählen unter anderem die Rechts- und die Wirtschaftswissenschaften. Oppositionswissenschaften wie die Soziologie generieren im Gegensatz dazu Wissen, das die Gesellschaft und den Staat destabilisieren kann.

Die Pädagogik betrachtet das sogenannte „Verfügungswissen“ als Herrschaftswissen. Es vermittelt Kausalitäten und Methoden, womit es im Gegensatz zum Orientierungswissen steht, das moralischen Werte vermittelt. Die Soziologie bezeichnet Herrschaftswissen als Elitewissen mit hohem Missbrauchspotenzial.

Autor: Pierre von BedeutungOnline

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