Afghanistan (paschtunisch افغانستان) liegt inmitten von Iran, Usbekistan, Turkmenistan, Tadschikistan, Pakistan und China. Drei Viertel des Staatsgebietes sind schwer zugängliche Gebirgsregionen. Diese geostrategische Lage ist für mehrere Mächte in der Region wie den Iran, Pakistan und China sehr interessant. Zugleich ist das Land instabil und rückständig, was nach außen destruktiv wirkt.
Aus Afghanistan kommen 90 % des weltweit konsumierten Opiums und 80 % des Heroins, auch das meisten Haschisch stammt aus dem Land am Hindukusch. Gleichzeitig ist es ein idealer Rückzugsort für Terroristen, die sich aus dem Drogenhandel finanzieren können, in der unzugänglichen Region schwer zu fassen sind und in den Taliban Brüder im Geiste finden. Daher kann der Westen Afghanistan nicht links liegenlassen. Die Terroranschläge des 11. September 2001 in den USA gingen von al-Qaida-Terroristen aus, die von Afghanistan aus operiert hatten.
Entwicklungen der letzten Jahrzehnte in Afghanistan
Afghanistan war seit 1933 eine konstitutionelle Monarchie mit dem fortschrittlichen König Zahir Schah an der Spitze, der eine demokratische Wende mit Wahlen, Parlament, Frauenwahlrecht und Pressefreiheit einleitete. Diese Politik war in der Bevölkerung nicht unumstritten. Unter den Parteien gab es auch einen kommunistischen Ableger, dessen Führer Mohammed Daoud Khan 1973 mit Rückendeckung der Sowjetunion das Königshaus stürzte und eine Republik ausrufen ließ.
Ab 1978 dominierten die Kommunisten nach einem weiteren Umsturz die Regierung und setzten vollends auf sowjetische Unterstützung, wogegen militärischer Widerstand aufflammte. Diesen unterstützten die USA und Pakistan. Es entstand einer jener Stellvertreterkriege, in denen sich in den 1950er- bis 1980er-Jahren die Supermächte USA und Sowjetunion in vielen Teilen der Welt gegenübergestanden hatten, bis schließlich 1979 sowjetische Truppen in Afghanistan einmarschierten. Sie führten dort einen zehnjährigen Krieg gegen die Mudschahedin (prinzipielle Vorläufer der heutigen Taliban), die ihrerseits von den USA, Pakistan und Saudi-Arabien unterstützt wurden.
1989 zogen die sowjetischen Truppen ab und hinterließen eine sowjetisch gestützte Regierung, die sich bis 1992 hielt. Dann nahmen die Mudschahedin das Land komplett ein, besetzten Kabul, folterten und ermordeten den prosowjetischen Präsidenten Mohammed Nadschibullāh und hängten seine Leiche öffentlich auf. Daran beteiligt waren Kämpfer, die sich zu diesem Zeitpunkt schon Taliban nannten.
Es entstand 1992 ein Islamischer Staat Afghanistan, der alsbald in Machtbereiche konkurrierender Mudschahedin zerfiel und in dem nichts anderes gedieh als Drogenanbau und -handel sowie Terrorunterstützung. Wichtig zu wissen: Terrorunterstützung hat einen finanziellen Aspekt. Terroristen wie al-Qaida werden von Staaten und/oder großen Konzernen finanziert, die den Terror zugunsten eigener Interessen fördern. So vermutet man vom Staat Katar, dass er Terrororganisationen finanziell und logistisch unterstützt. Osama Bin Laden entstammte einer sehr vermögenden saudischen Unternehmerfamilie. Ein Staat, der Terroristen Unterschlupf gewährt, profitiert ebenfalls von solchen Geldern. Der Staat muss freilich die Terrorziele auch ideologisch vertreten können, was in Afghanistan der Fall war und ist.
Ab 1992 spielten die fundamentalislamischen Talibanmilizen eine wichtige Rolle. Sie setzten ab diesem Zeitpunkt ihre radikale Islaminterpretation durch, die zu brutalen Bestrafungen nach den Gesetzen der Scharia führte. In diesem Land fanden die Terroristen von al-Qaida Unterschlupf, die in den Taliban Verbündete gefunden und offenkundig von hier aus unter ihrem Führer Osama Bin Laden die Terroranschläge des 11. September 2001 geplant hatten. Die USA forderten von den Taliban die Auslieferung Bin Ladens, welche diese verweigerten. Daraufhin marschierten die USA gemeinsam mit einem Militärbündnis, zu dem anfangs Großbritannien, Deutschland und auch Truppen der afghanischen Nordallianz (Tabilangegner) gehörten, ins Land ein. Sie stürzten die Talibanregierung und setzten eine neue, westlich orientierte Regierung ein, doch der militärische Konflikt schwelte weiter. So begann der 20-jährige Krieg mit UNO-Mandat. In seinem Verlauf wurde das Militärbündnis erheblich ausgeweitet. Insgesamt waren diese Staaten beteiligt:
- afghanische Regierungstruppen
- USA
- Großbritannien
- Deutschland
- Österreich
- Italien
- Spanien
- Kanada
- Dänemark
- Niederlande
- Australien
- Georgien
- Frankreich
- Polen
- Türkei
Das gemeinsame Interesse dieser Staaten und der Weltgemeinschaft, die immerhin die Mission per UNO-Mandat abgesegnet hatte, war die Rückführung Afghanistans in ein fortschrittliches Staatswesen, das es ja ab Mitte der 1930er-Jahre bis Anfang der 1970er-Jahre gewesen war. Daher wurde die 20-jährige Besetzung des Landes durch westliche Truppen von erheblichen Anstrengungen der Demokratisierung, Bildung, Wirtschaftshilfe und Schulung der einheimischen Sicherheitskräfte begleitet. Diese Mission gilt seit dem relativ chaotischen Abzug der westlichen Truppen im Sommer 2021 – nach der Rückeroberung des Landes durch die Taliban – als gescheitert.
Interessensphären in Afghanistan: Warum es so wichtig ist
Durch seine geografische Lage ist Afghanistan militärisch und handelstechnisch bedeutsam. Gleichzeitig besitzt das Land sehr bedeutende Rohstoffvorkommen, zu denen unter anderem Gold, Kupfer und Eisenerz gehören und deren Wert US-Geologen im Sommer 2021 auf drei Billionen US-Dollar schätzten. Deren Ausbeutung verlangt allerdings ein stabiles Staatswesen, damit sich westliche oder auch asiatische (vorrangig chinesische) bzw. russische Firmen mit entsprechenden Investitionen und Know-how engagieren.
In den Jahren seit der westlichen Invasion ab 2001 wurden wegen der prekären Sicherheitslage praktisch keine Rohstoffe abgebaut, Afghanistan lebt finanziell fast ausschließlich vom Drogenhandel. Auch die Taliban finanzieren sich durch Steuern auf den Drogenanbau und -handel. Dass dieser überhaupt in dieser Größenordnung möglich ist, verlangt ein Staatswesen, das diesen Wirtschaftszweig unterstützt oder zumindest absolut toleriert.
Von 2001 bis 2021 versuchten die westlich gestützten afghanischen Regierungen, die Heroin-, Opium- und Marihuanaproduktion wenigstens etwas einzudämmen, doch das gelang nur, weil massive westliche Wirtschaftshilfen ins Land flossen, die bis zu zwei Drittel des Staatshaushalts ausmachten. Da diese seit der Machtübernahme der Taliban nicht mehr fließen und gleichzeitig afghanische Vermögen im Ausland eingefroren wurden, wird die afghanische Drogenproduktion vermutlich auf neue Rekordhöhen ansteigen, während die wertvollen Bodenschätze wegen der nun noch schlechteren Sicherheitslage in der Erde bleiben.
China, Russland, die Türkei, Pakistan und weitere regionale Mächte haben zwar ein Auge darauf geworfen, doch mit Stand Herbst 2021 engagieren sich auch diese Länder nicht in Afghanistan, obgleich sie zu den Taliban durchaus entspannte Beziehungen unterhalten. Der russische Botschafter Schirnow blieb während der Evakuierungsaktion im August 2021 seelenruhig in seiner Residenz in Kabul und erklärte westlichen Journalisten, er mache sich keine Sorgen um seine Sicherheit und die seiner Mitarbeiter*innen.
Die chinesische Führung bot den Taliban schon im September 2021 an, beim Wiederaufbau und der Errichtung einer robusten Infrastruktur zu helfen. Im Gegenzug hoffen die Chinesen auf die afghanische Rohstoffexploration, außerdem liegt das Land im Einzugsbereich ihrer neuen Seidenstraße. Mit Stand Oktober 2021 ist allerdings nicht zu vernehmen, dass die Chinesen oder andere der genannten nicht-westlichen Mächte solche Pläne forcieren. Sie warten offenkundig ab, wie sich die neue Talibanherrschaft entwickelt, wobei sie wie die gesamte übrige Welt nichts Gutes entdecken.
Die Taliban schränken inzwischen wieder massiv die Frauenrechte ein, führen harte Schariabestrafungen durch und haben eine erzkonservative, ausschließlich männliche Regierungsmannschaft installiert. Es ist daher vorläufig nicht zu erwarten, dass in diesem Land ein Blumentopf zu gewinnen ist, durch wen auch immer. Das ist schon in den Jahren 2001 bis 2021 nicht gelungen, nun dürfte es aussichtslos sein. Möglicherweise erkennen das auch die Chinesen, denen die fundamentalislamische Ideologie so fremd wie den westlichen Staaten ist. Sie bekämpfen im eigenen Land die islamischen Uiguren.
Afghanistan: Ökonomie der jüngsten Zeit
Durch den anhaltenden Bürgerkrieg und die politische Dauerkrise steckte Afghanistan schon seit 2014 in einer Wirtschaftskrise, die sich ab 2020 durch Corona und Dürre sowie 2021 durch den Zusammenbruch westlich gestützter Wirtschaftszweige nach der Machtübernahme durch die Taliban drastisch verschärfte.
Im Herbst 2021 hungern im Land geschätzte 18,4 Millionen Menschen mit steigender Tendenz, das ist fast die Hälfte der Bevölkerung. Mit Stand Oktober 2021 bahnt sich in Afghanistan eine der größten humanitären Katastrophen im globalen Maßstab an, die jene in afrikanischen Failed States übertreffen dürfte. Gleichzeitig wurde den Taliban durch die westlichen Staaten der Geldhahn zugedreht.
Die afghanische Zentralbank hatte geschätzte 80 – 90 % des Staatsvermögens auf ausländischen Bankkonten deponiert. An dieses Geld kommen die Taliban mit Stand Oktober 2021 nicht. Gleichzeitig hat die Weltgemeinschaft Anfang Oktober 2021 ein milliardenschweres humanitäres Hilfsprogramm für die notleidende Bevölkerung aufgelegt, doch dessen Verwendung wird kontrolliert: Damit kaufen Hilfsorganisationen Lebensmittel und schaffen sie ins Land. Das gegenwärtige Ziel des Westens besteht darin, die humanitäre Katastrophe abzuwenden, jedoch die Taliban finanziell auszutrocknen, um ihre Regierung nahezu handlungsunfähig zu machen.
Wie kann die Talibanregierung jetzt (2021) agieren?
Die neue Talibanregierung hat prinzipiell drei Optionen:
- #1 Sie kann sich den Vorstellungen westlicher Staaten in Teilen anpassen, eine gemäßigtere islamische Herrschaft errichten und damit auf internationale Anerkennung, die Freigabe des afghanischen Staatsvermögens und westliche Wirtschaftshilfen hoffen. Diese Option gilt aus zwei Gründen als unrelastisch: 1. widerspricht sie vollkommen dem Selbstverständnis der Taliban, 2. sind westliche Truppen nicht überhastet aus dem Land abgezogen, damit anschließend ihre Staaten den ehemaligen Kriegsgegner unterstützen. Dafür müssten sich die Taliban sehr verbiegen, was auszuschließen ist.
- #2 Die Taliban können auf die Hilfe der Chinesen, Russen und Pakistanis hoffen, die sich aus dem Krieg der letzten 20 Jahre herausgehalten haben. Das ist nicht auszuschließen, wenn auch gegenwärtig nicht erkennbar.
- #3 Die Taliban können ihre alte Strategie fortführen, sich durch Drogenhandel und als Unterschlupf für Terroristen zu finanzieren. Vermutlich erhalten sie von Terroristen, die das Land als Stützpunkt nutzen, viel Geld. Osama Bin Laden und al-Qaida dürften sich jedenfalls in den 1990er-Jahren in Afghanistan eingekauft haben.
Diese Aussichten sind für den Westen recht trübe.