Warum hat Deutschland keine Verfassung? Erklärung, Geschichte, Bedeutung

Warum hat Deutschland keine Verfassung, Erklärung, Geschichte, Bedeutung


Die Aussage, Deutschland habe keine Verfassung, hört man dieser Tage immer öfter und verortet sie für manchmal in der Szene der Reichsbürger. Doch wie bei so vielem, was in Kreisen von Verschwörungstheoretikern geäußert wird, ist auch hier etwas Wahres dran, denn es stimmt: Streng genommen hat die Bundesrepublik Deutschland keine Verfassung.

Warum hat Deutschland keine Verfassung? Erklärung, Geschichte, Bedeutung

Denn was ist überhaupt eine Verfassung? Eine Verfassung wird definiert als das zentrale Rechtsdokument, das sowohl den grundlegenden organisatorischen Aufbau und die territoriale Gliederung eines Staates als auch dessen Verhältnis zu seinen Bürgern regelt. Bis hierhin könnte unser Grundgesetz also sehr wohl eine Verfassung sein. In Demokratien kommt aber ein weiterer Faktor hinzu: Die Verfassung muss vom Volk in einem Referendum demokratisch ratifiziert worden sein. Denn es ist nun einmal die Basis jedes demokratischen Staates, dass die verfassungsgebende Gewalt vom Volk ausgeht. Normalerweise passierte so etwas nach Revolutionen, die eine alte feudalistische, monarchistische oder autokratische Ordnung gegen eine neue demokratische ersetzten. So war es in Deutschland 1918 auch mit der Weimarer Verfassung, aus der viele Punkte ins Grundgesetz übernommen wurden, als Lehre aus der NS-Zeit aber eben nicht alle. Das Grundgesetz selbst wurde aber nie vom Volk ratifiziert. Obgleich das Grundgesetz also die Funktion einer Verfassung erfüllt, ist es genau genommen keine.

Das wirft nun zwei Fragen auf:

  1. Warum wurde das Grundgesetz nie demokratisch legitimiert?
  2. Warum hat sich das deutsche Volk nie selbst eine Verfassung gegeben?

Wie entstand das Grundgesetz?

Das Grundgesetz trat am 23. Mai 1949 zeitgleich mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland, die sich aus der amerikanischen, der britischen und der französischen Besatzungszone zusammensetzte, in Kraft. Die Westalliierten standen nach Ende des Zweiten Weltkrieges vor einer schwierigen Aufgabe. Auf der einen Seite wollte man den Deutschen ihr Land und ihre Souveränität zurückgeben – nicht zuletzt, weil sich ein Konflikt mit der Sowjetunion anbahnte und ein starkes Westdeutschland ein essenzieller Verbündeter in so einem Konflikt gewesen wäre –, auf der anderen Seite hatte man gerade erst das Regime der Nationalsozialisten besiegt, das entstanden war, weil die Weimarer Verfassungen eklatante Schwachstellen besessen hatte, die von den Nazis ausgenutzt worden waren, und weil die Deutschen noch nicht bereit für die Demokratie gewesen waren, die nach Ende des Ersten Weltkriegs 1918 entstanden war. Man musste die deutsche Bevölkerung also behutsam an die Demokratie heranführen und aus den Fehlern von Weimar lernen, wenn man nicht Gefahr laufen wollte, diese zu wiederholen. Ferner sah man eine große Gefahr in der zentralistischen Machtkonzentration.

Um nicht wieder einen starken zentralistischen Staat entstehen zu lassen, legten die Westalliierten große Macht in die Hände der Ministerpräsidenten der einzelnen Bundesländer. Diese waren es auch, die am 1. Juli 1948 in Frankfurt am Main den Beschluss der Londoner Sechsmächtekonferenz, wonach man eine verfassungsgebende Versammlung für den aus den drei westlichen Besatzungszonen entstehenden westdeutschen Staat einberufen werden sollte, entgegennahmen. Die Besatzungsmächte hatten erwartet, dass eine einen Föderalstaat festigende Verfassung entstehen würde, die dann von den Militärgouverneuren hätte genehmigt und von der Bevölkerung der westlichen Bundesländer in einem Referendum hätte ratifiziert werden sollen.

Dies widersprach aber dem Ansinnen der Ministerpräsidenten, die die föderale Gliederung Deutschlands als etwas Vorübergehendes einstuften. Obgleich die Ministerpräsidenten also von den Besatzungsmächten aufgewertet worden waren, wollten sie diesen Status nicht durch eine Verfassung festigen. Die Folge war ein vorläufiges Grundgesetz, das als Provisorium anstelle einer Verfassung fungieren sollte. Zu einem Referendum kam es nicht, weil die wieder- oder neuentstandenen Parteien – vor allem CDU/CSU und SPD – dagegen waren. Man traute dem Volk, das gerade noch eine Diktatur willfährig gestützt hatte, nicht zu, diese Entscheidung zu treffen. Auch dies war eine Lehre aus Weimar. Das Grundgesetz selbst verbietet sogar bis heute Volksentscheide auf Bundesebene.

Verfassung: Die Rolle der Teilung Deutschlands

Als die elf Ministerpräsidenten der westdeutschen Bundesländer vom 8. bis 10. Juli 1948 in Koblenz zusammenkamen, taten sie dies ohne die Ministerpräsidenten der ostdeutschen Bundesländer und brachten damit final eine Teilung zum Ausdruck, für die sie keine Verantwortung übernehmen wollten, da sie faktisch bereits im Vorfeld bestanden hatte. Weil man angesichts der Teilung keinen endgültigen neuen deutschen Staat schaffen wollte, kam nur ein Provisorium anstelle einer Verfassung infrage, das dann bei der bald erhofften Wiedervereinigung aller deutschen Länder durch eine richtige Verfassung ersetzt werden sollte.

Dieses Provisorium, das Grundgesetz, sah deshalb auch zwei Artikel vor, die sich mit der Wiedervereinigung Deutschlands, das aus Sicht der Väter des Grundgesetzes nach der Kaiserzeit fortbestünde, beschäftigten. Art. 23 sollte den Geltungsbereich des Grundgesetzes für andere Teile Deutschlands offen halten, womit man auf die Wiederangliederung des Saarlands abzielte, zu der es 1957 kam. Art. 146 wiederum war für den Fall einer tatsächlichen Wiedervereinigung ganz Deutschlands vorgesehen und besagt: „Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“

Als es dann 1990 zur Wiedervereinigung kam, votierte die Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik ganz im Sinne des damaligen westdeutschen Bundeskanzlers Helmut Kohl (CDU) und des damaligen Bundesminister des Inneren, Wolfgang Schäuble (CDU), nicht für eine Wiedervereinigung und ein Referendum zur Verfassungsgebung nach Art. 146, sondern für einen Anschluss an die Bundesrepublik Deutschland gemäß Art. 23. So wurde mit der Wiedervereinigung aus dem Provisorium de facto doch noch eine Dauerlösung. Seither fungiert das Grundgesetz als die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, auch wenn es ganz streng genommen keine sein mag. Bei Lichte betrachtet, sollte man aber davon ausgehen, dass eine richtige Verfassung nicht viel anders aussehen würde, als es das Grundgesetz tut.

Autor: Pierre von BedeutungOnline

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