Was ist die Wohlstandsillusion? Erklärung, Bedeutung, Definition


Als Wohlstandsillusion wird das falsche Versprechen in entwickelten Gesellschaften bezeichnet, dass der Wohlstand beständig wächst und es deshalb Kinder stets zu etwas mehr Wohlstand bringen als ihre Eltern. Selbst wenn sie nur in etwa die berufliche Position der Eltern erreichen, werden sie damit mehr verdienen bzw. sich mehr Wohlstand leisten können als die Vorgängergeneration, so das Versprechen. Dies hat aber in Wahrheit in den letzten 100 Jahren immer nur phasenweise gestimmt.

In den USA warnten Soziologen schon in den späten 1980er Jahren davor, dass der „American Dream“ sich nicht ewig fortsetzen muss. Im deutschsprachigen Raum deutet sich seit den 2000er Jahren an, dass die Kinder es nicht mehr „einmal besser haben werden“ als ihre Eltern. Dies galt allenfalls bis in die frühen 1990er Jahre.

Was ist eine Wohlstandsillusion? Erklärung, Bedeutung, Definition

Den Begriff einer Wohlstandsillusion prägte maßgeblich die Journalistin und Autorin Julia Friedrichs mit ihrem 2021 erschienenen Buch „Working Class: Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können“. Sie griff damit ein brisantes Thema auf, das die Medien, die Politik und somit auch die breite Öffentlichkeit schon länger bewegte: Mangelnder Wohlstand ist heutzutage keinesfalls ein Problem von Arbeitslosen. Es gibt vielmehr sehr viele Menschen, die bei harter Arbeit sehr wenig verdienen.

Die Publikation von Julia Friedrichs ist ein Sachbuch. Sie interviewte Politiker, Ökonomen und vor allem diejenigen, die es betrifft: Angehörige der hart arbeitenden, wenig verdienenden Schichten von der Reinigungskraft über Callcenter-Agents, den Handwerker und den völlig unterbezahlten Freiberufler mit 80-Stunden-Woche bis hin zu Teilzeitkräften im Büro. Sie alle kämpfen tagtäglich um ein bisschen Wohlstand, häufiger um die Grundexistenz und manchmal auch gegen den Absturz. Es ist die Generation ab den Jahrgängen 1968 bis 1970, die den Babyboomern folgte und als erste Generation nach den späten 1940er Jahren ihre Eltern wirtschaftlich nicht mehr übertreffen kann. Das erscheint umso erstaunlicher bzw. prekärer, weil die Wirtschaft seit 2010 praktisch ununterbrochen wuchs. Dennoch besitzen die Jahrgänge zwischen 1970 und 2000 kaum Kapital bzw. Vermögen wie abbezahlte Immobilien.

Neue Working Class

Julia Friedrichs hat nicht nur den Begriff der Wohlstandsillusion, sondern auch den der neuen Working Class geprägt. Damit meint sie genau diejenigen, die es bei harter Arbeit zu nichts bringen. Nach ihren Recherchen zeichnete die Autorin ein bitteres Bild: Die Hälfte dieser Menschen fürchtet sich vor Altersarmut. Schlimm ist daran, dass diese Befürchtungen vollkommen berechtigt sind. O-Ton Friedrichs: „Sie strampeln tagtäglich, doch sie kommen niemals auf einen grünen Zweig.“ Der neuen Working Class rechnet Friedrichs rund 50 % der Berufstätigen in Deutschland zu. Dieser Anteil dürfte seit Mitte 2022 durch die explodierende Inflation noch steigen. Julia Friedrichs warnt vor den unausweichlichen fatalen Folgen für unsere Gesellschaft. Sie macht sich auch Gedanken darüber, was die Situation in den Betroffenen auslöst. Sie müssen nämlich unweigerlich erkennen, dass der von Kindesbeinen an versprochene Wohlstand eine Illusion bleiben muss. Diese Erkenntnis vergleicht die Autorin mit einem Menschen, der eine abwärts fahrende Rolltreppe hinaufsteigen möchte: Er kommt bei aller Mühe einfach nicht oben an. Auch das Bild vom stockenden Fahrstuhl bemüht sie, der nicht weiter aufwärts fährt. Ähnliche Metaphern sind auch von Ökonomen aus dem angloamerikanischen Raum bekannt. Sie heißen dort unter anderem „running to stand still“ und „broken elevator“.

Bestätigung durch Studien

Von der OECD und der Bertelsmann-Stiftung stammt eine im Dezember 2021 veröffentlichte Studie, welche die Lage der Mittelschicht beschreibt. Sie bestätigt das von Julia Friedrichs gezeichnete Bild. Für die genannten Generation gilt das Aufstiegsversprechen in Staaten mit sozialer Marktwirtschaft nicht mehr. In Deutschland beispielsweise ist die Mittelschicht inzwischen kleiner als vor 30 Jahren. Sie begann ab 1995 zu schrumpfen. Bis zur Gegenwart stagniert seither das verfügbare Einkommen, seit dem Ausbruch der Inflation ab Mitte 2022 sinkt es effektiv. Dies beeinträchtigt fühlbar den Lebensstandard fast aller Haushalte. Dem stehen die Leistungsfähigkeit der Jüngeren, der unverkennbare Boom der Wirtschaft, der Fachkräftemangel und die Investitionen in die Bildung gegenüber. All diese Faktoren müssten eigentlich genügen, um das Wohlstandsversprechen einzulösen. Es bleibt indes eine Illusion. Harte Fakten zum Thema kommen von Wirtschaftswissenschaftlern. Sie können belegen, dass nur noch höchstens 50 % aller Berufstätigen der Jahrgänge ab 1980 das Einkommen ihrer Eltern erreichen oder gar übertreffen. Erstaunlich, aber wahr: Gleichzeitig wuchs das Volkseinkommen in Deutschland seit 1980 um 53 %.

Wohlstandsillusion: Ursachen für die prekäre Lage

Die Hauptursache für Deutschland machen Ökonomen in den Reformen der Schröder-Regierung zwischen 1998 und 2005 aus. Die sogenannte Agenda 2010 mit ihren Hartz-IV-Reformen senkte zwar drastisch die Arbeitslosigkeit und förderte kräftig die Wirtschaft, doch sie führte auch dazu, dass Menschen immer häufiger in prekäre Arbeitsverhältnisse abwanderten. In anderen Staaten gab es ähnliche Entwicklungen, in Großbritannien schon unter der Thatcher-Regierung zwischen 1979 und 1990. Wenn aber Menschen erst einmal prekär arbeiten, also wahlweise zwischen mehreren Mini-Jobs pendeln oder in einem Beruf – auch als Selbstständige – für sehr wenig Geld sehr viel arbeiten, haben sie keine Ressourcen mehr, um sich nach einer besser bezahlten Beschäftigung umzusehen bzw. sich für diese zu qualifizieren. Die Arbeitgeber wissen das und praktizieren Ausbeutung bzw. setzen auf die Selbstausbeutung der Beschäftigten.

Woher kommt die Wohlstandsillusion?

Wie jede Illusion ist sie zu schön, um sie einfach abzulegen. Hinzu kommt, dass das Versprechen der Eltern an ihre Kinder, dass diese in noch größerem Wohlstand als sie selbst leben würden, bis Anfang der 1980er Jahre einigermaßen zu halten war. Es hatte sich mithin über drei Jahrzehnte als verlässlich erwiesen. Es gab auch keine äußeren Ereignisse wie einen Krieg oder eine wirklich verheerende Wirtschaftskrise, die dem entgegengestanden hätten. Bis heute (2022) wird die Illusion sogar nach wie vor von der Elterngeneration genährt, die vielfach nicht sehen will, wie schwer es die Nachkommen haben. Diese Eltern der Babyboomergeneration sind inzwischen 70 bis 80 Jahre alt. Für sie galt: Wer fleißig ist, bringt es zu etwas. Wer das nicht schafft, ist selbst schuld. Ihren Kindern fällt es schwer, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Dies desillusioniert die Kinder noch mehr.

Wohlstandsillusion: Gibt es einen Ausweg?

Das Versprechen, dass der Wohlstand für alle wie seit den 1950er Jahren stetig wächst, ist aus Sicht des Jahres 2022 unhaltbar. Der beste Ansatz dürfte sein, die Wohlstandsillusion konsequent abzulegen und sich den Tatsachen zu stellen. Doch jüngere Berufstätige sollten strikt darauf achten, sich nicht grenzenlos ausbeuten zu lassen. Arbeitgeber müssen lernen, dass Dumpinglöhne den Fachkräftemangel garantiert nicht beheben.

Autor: Pierre von BedeutungOnline

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