Das Konzept der Wahlblindheit (eng. choice blindness) unterstellt den Menschen sich nicht immer den eigenen Wahlentscheidungen und Präferenzen bewusst zu sein. Die menschliche Psyche neigt dazu, Lebensumstände, die wir selbst nicht herbeigeführt haben, zu verteidigen und als eigene Entscheidung zu verkaufen. Selbst wenn Menschen ihre Wünsche nicht verwirklichen, existiert eine sehr große Wahrscheinlichkeit, dass sie es nicht bemerken. Damit ist die Wahlblindheit Teil eines kognitiven Phänomens – auch bekannt als introspektive Illusion.
Was ist Wahlblindheit? Bedeutung, Definition, Erklärung
Entdeckt wurde das Phänomen der Wahlblindheit von den Wissenschaftlern Lars Hall und Petter Johansson von der schwedischen Lund Universität mithilfe einer Studie aus dem Jahr 2005. Sie zeigten 70 Frauen und 50 Männern zwei weibliche Portraitfotos in Spielkartengröße. Die Gesichter der Frauen sahen sich zwar ähnlich, waren aber bei näherer Betrachtung gut zu unterscheiden. Die Aufgabe war es nun, die attraktivere Frau auszuwählen. Unmittelbar nach der Wahlentscheidung wurden die Karten verdeckt auf den Tisch gelegt und dem jeweiligen Probanden wurde jenes Bild als seine Auswahl präsentiert, für das er sich nicht entschieden hatte. Er sollte die Karte umdecken und seine Wahl erläutern. Erstaunlicherweise bemerkten rund 74 % der Studienteilnehmenden den Austausch nicht, stattdessen begründeten die Probanden, warum sie die Frau, die sie vor einigen Sekunden noch als unattraktiver klassifiziert hatten, nun als Gewinnerin sehen. Selbst in einem zweiten Durchgang blieben die Personen der heimlich untergeschobenen Karte treu. Sie entschieden sich nochmal für dieses Foto, dessen Wahl sie bereits gerechtfertigt hatten.
Einige Jahre später unternahm Lars Hall ein ähnliches Experiment in einem Supermarkt. Es wurden 180 Personen Geschmacksproben von zwei Teesorten (Apfel und Honig) sowie von drei Marmeladensorten (Zitrone, Apfel-Zimt oder Grapefruit) gegeben. Nachdem die Lebensmittel probiert worden sind, sollten die Probanden ihr Lieblingsprodukt auswählen. Sofort nach der Entscheidung wurden die Favoriten gegen andere Sorten getauscht und die Teilnehmenden erneut um eine Geschmacksprobe gebeten. In der Vorstellung die gewählte Lieblingssorte zu kosten, erklärte rund zwei Drittel der Probanden selbstsicher, warum sie sich für exakt dieses Produkt entschieden hatten. Nur ein Drittel bemerkte den heimlichen Tausch.
Wahlblindheit im Alltag: Beispiele
Die Wahlblindheit erklärt, dass Menschen sich nach einer großen Liebe wieder in einen anderen Menschen verlieben können, der dann die vermeintlich viel bessere Wahl ist. Es kann aber auch begründen, warum Menschen lange Jahre zusammenbleiben, obwohl sie sich verändern. Zum Beispiel kann das ursprüngliche Motiv einer Partnerschaft sein, dass die oder der Auserwählte sehr sportlich ist. Während der Beziehung verschwinden womöglich die Muskeln, aber es werden andere Eigenschaften wie Zuverlässigkeit und Einfühlungsvermögen für gut befunden.
Bei politischen Wahlentscheidungen kann das Konzept ebenfalls eine Rolle spielen. Angela Merkels Beliebtheitswerte in der Bevölkerung waren während ihren Legislaturperioden durchweg sehr gut und das auch bei Personen, die sie nicht gewählt hatten. Das mag daran liegen, dass sie als Bundeskanzlerin einen guten Job gemacht hat. Ein Grund ist aber vermutlich auch, dass Menschen gerne als Gewinner dastehen. In der Konsequenz wird selbst eine untergeschobene Wahlentscheidung als gut eingestuft.
Der Rechtfertigungsdruck beeinflusst Wahlentscheidungen
In einer Studie hat der Wissenschaftler Benjamin Scheibehenne von der Universität Basel belegt, dass die Entscheidungen von Menschen sich verändern, wenn sie ihre Entscheidungen begründen müssen. Er präsentierte seinen Studienteilnehmenden karitative Vereine und fragte anschließend, ob sie bereit wären, den Vereinen einen Euro zu spenden. Sie hatten die Wahl fünf, 40 oder 80 Vereinen eine Spende zu kommen zu lassen. Die Gruppe A konnte ohne Rechtfertigung ihre Auswahl treffen, während die Gruppe B ihre Entscheidungen begründen sollte. Im Ergebnis war die Gruppe A deutlich großzügiger mit den Spenden als die Gruppe B. Die Sorge sich nicht ausreichend rechtfertigen zu können, sorgte für größere Vorsicht.
Der Verhaltensökonom Aner Sela hat diesen Einfluss der Rechtfertigung auf den Ausgang unserer Entscheidungen ebenfalls bewiesen. In seinem Experiment stellte er seine Probanden vor die Wahl unterschiedlicher Eissorten. Dazu gehörten die klassischen Varianten wie Schokolade oder Sahnecreme aber auch Sorbets mit Früchten oder andere fettreduzierte Diätsorten. Sobald die Personen ihre Auswahl begründen mussten, wählten sie die gesünderen Varianten.
Siehe auch: Was ist Veränderungsblindheit?
Schlussfolgerung: Wahlblindheit
Wie die Studien von Hall und Johansson beweisen, ist der Mensch sehr schlecht darin, kleine Abweichungen in der Umgebung wahrzunehmen, wenn keine erwartet werden. Aber was noch viel interessanter ist, der Mensch hat ganz klare Präferenzen, er kann sie allerdings sehr leicht vergessen.
Und zu guter Letzt, Menschen entscheiden gerne aus dem Bauch heraus. Sobald sie allerdings Entscheidungen begründen müssen, können sich diese stark verändern.