Der White Gaze (auf Deutsch „weißer Blick“) beschreibt eine Perspektive, die insbesondere Menschen mit einer weißen Hautfarbe einnehmen, wenn sie Literatur oder Medien konsumieren. Diese Prägung kann sich im Nachgang auf ihren Blick auf die Gesellschaft oder ihre Umgebung auswirken.
Der White Gaze legt zugrunde, dass die Eindrücke und die Sichtweise der Menschen auf die Welt auf den Erfahrungen von Menschen mit einer weißen Hautfarbe basieren. White Gaze bezieht sich gemäß seiner Definition auf die Perspektive von Menschen mit einer weißen Hautfarbe, kann sich aber auch die Sichtweise aller anderen Menschen prägen.
Spartenübergreifend nimmt der White Gaze eine gesamtgesellschaftlich dominante Rolle ein, ähnlich wie der Male Gaze, der männliche Blick.
Entstehung des Begriffs „White Gaze“
Geprägt wurde der Begriff des „White Gaze“ erstmals von der afroamerikanischen Schriftstellerin Toni Morrison. Sie hat die Einnahme der weißen Perspektive in der Literaturszene als Erste identifiziert. Mit dieser Erkenntnis hat sie erkannt, dass Bücher größtenteils für eine Leserschaft mit einer weißen Hautfarbe verfasst wurden, unabhängig davon, ob es sich bei den Verfasserinnen oder Verfassern selbst um Menschen mit einer weißen Hautfarbe handelt. Demnach basieren die erzählten Geschichten ihrer Auffassung nach in erster Linie auf den Erfahrungen von Menschen mit einer weißen Hautfarbe.
Die Perspektiven Menschen mit einer anderen Hautfarbe nähmen in der Belletristik hingegen nur eine Nebenrolle ein und hätten das Ziel, die Machtposition der weißen Gesellschaft zu stärken. Damit würde eine Norm vermittelt, die über die Literatur hinaus in weiten Teilen der Bevölkerung das Gefühl auslöst, dass „weiß“ zu sein der Regelfall sei. An diesem habe sich alles zu orientieren, während andere Hautfarben eine Abweichung von dieser Norm bedeuten und als „anders“ zusammengefasst würden.
Die 1931 in Ohoio geborene Schriftstellerin veröffentlichte bis 2014 mehrere Romane und Sachbücher, die sich mit dem Ungleichgewicht zwischen den gesellschaftlichen Perspektiven von Menschen mit schwarzer und Menschen mit weißer Hautfarbe beziehen. Bereits in The Bluest Eye (auf Deutsch „Sehr blaue Augen“), dem ersten Roman der späteren Literaturnobelpreisträgerin und Pulitzer-Preisträgerin, thematisiert sie die Orientierung der Gesellschaft an einem weißen Wertesystem und das damit verbundene Lebensgefühl der Zweitklassigkeit für Menschen mit einer dunkleren Hautfarbe.
Bis zu ihrem Tod im Jahr 2019 hat sie es sich zur Aufgabe gemacht, dieses System zu durchbrechen und betont, dass sie bezogen auf ihre Werke stets den Anspruch habe, den White Gaze zu vermeiden und diesem in ihren Büchern keine dominante Rolle zu geben.
Der Erkenntnisse afroamerikanischen Autorin folgten weitere Betrachtungsweisen anderer Schriftstellerinnen und Schriftsteller sowie Gesellschaftsforscher. Außerdem nehmen sich zunehmend Tageszeitungen und Magazinen diesem Thema an. Die bekannteste deutsche Vertreterin ist May Ayim. Die Pädagogin und afrodeutsche Dichterin veröffentlichte im Jahr 1984 zusammen mit weiteren Autorinnen und Autoren das Werk „Farbe bekennen“. Darin stellt das Autoren-Kollektiv die Lebensrealität von Menschen mit einer dunklen Hautfarbe durch Lyrik, Anthologien und wissenschaftliche Texte dar.
Konzept des White Gaze
Der White Gaze beruht in seiner Grundannahme darauf, dass Leserinnen und Leser von Büchern grundsätzlich immer davon ausgehen, dass die Protagonisten der Erzählung eine weiße Hautfarbe haben. Menschen mit einer anderen Hautfarbe oder einer anderen Herkunft werden hingegen in den meisten Werken explizit als diese erwähnt und charakterisiert.
Der Hauptgrund für diese Problematik besteht darin, dass die meisten Bücher von Menschen mit einer weißen Hautfarbe geschrieben wurden und ihre Bücher sich, wenn auch unbewusst, in erster Linie auch an eine Leserschaft mit einer weißen Hautfarbe richten. Darüber hinaus trifft das Problem des White Gaze sogar häufig auf die Schreibweise von Autorinnen und Autoren zu, die selbst keine weiße Hautfarbe haben. Ihre Werke richten sich häufig auch an ein Publikum mit einer weißen Hautfarbe und wurden ebenfalls bewusst oder unbewusst für diesen Personenkreis geschrieben.
Mittlerweile handelt es sich bei dem White Gaze um einen feststehenden Begriff, der neben der Literatur auch in der Filmtheorie eine große Rolle einnimmt. Nicht selten spielen Menschen mit einer dunklen Hautfarbe in Filmen einen Bösewicht oder lediglich eine Nebenrolle. Beispiele für eine Verwendung des White Gaze finden sich daher in den meisten namhaften Filmproduktionen und in der überwiegenden Mehrzahl der Bestsellerromane. Werke, die explizit aus Sicht von Menschen einer anderen Hautfarbe erzählt werden, sind dagegen noch eine Seltenheit und werden umgekehrt als separatistisch angesehen.
Folgen des White Gaze
Ein Vorwurf an Autorinnen und Autoren, der insbesondere durch die BIPoC-Community. (BIPoC wird als diskriminierungsfreie, selbst gewählte Bezeichnung angesehen) vorgetragen wird, ist die Verstärkung der Unterscheidung zwischen Menschen mit weißer Hautfarbe und allen anderen. Sie kritisieren, dass White Gaze als überwiegende eingenommene Perspektive in der Literatur zur Folge hat, dass eine weiße Hautfarbe auch in der heutigen Zeit und einer moderner werdenden Gesellschaft noch immer zunehmend als Standard angesehen wird.
Für Menschen der BIPoC-Community könne dies im schlimmsten Fall dazu führen, dass sie ausgegrenzt werden und sich selbst der Gesellschaft nicht zugehörig fühlen. Langfristig kann es dazu kommen, dass Betroffene Anpassungsstrategien entwickeln, durch die sie ihre eigene Identität vergessen und überlagern würden. In besonders starken Ausprägungen kann der Identitätsverlust sogar zu der Entstehung des Impostor-Syndroms (umgangssprachlich als Hochstapler-Syndrom bezeichnet) führen, das zu starken Selbstzweifeln und dem Verlust der Wertschätzung für sich selbst und seine Leistungen führen kann.
Um diesen Entwicklungen entgegenzuwirken, werden die Forderungen an Literaten und die Filmindustrie nach offeneren Perspektiven, die auch andere Hautfarben in ihr Zentrum zu nehmen, immer lauter. Neben einer gleichberechtigten Darstellung aller Identitäten sehen sie darin auch einen weiteren Schritt zum Abbau von strukturellem Rassismus. Vor allem würden durch den Konsum von Filmen und Büchern bereits Kinder in den frühen Entwicklungsjahren in ihrem Denken beeinflusst und in den prägenden Kindheitsjahren auf die Einnahme einer „weißen Perspektive“ gepolt.
Lösung des White Gaze Problems
Die Lösung der einseitigen Einnahme der weißen Perspektive durch Schriftstellerinnen und Schriftsteller sowie die Filmindustrie liegt aus Sicht der Expertinnen und Experten in der Bewusstseinsbildung für das Problem des White Gaze. Noch immer sind sich die meisten Menschen nicht darüber bewusst, dass sie beim Lesen eines Buches die Rollen ganz selbstverständlich zuordnen. Hauptcharaktere, sofern sie nicht explizit anders beschrieben werden, sind vor dem geistigen Auge Menschen mit einer weißen Hautfarbe belegt und in Filmen ist der Einfluss der eigenen Vorstellungskraft noch begrenzter. Eine Veränderung könne nur durch das Schaffen weiterer Perspektiven und einer auch durch die Politik unterstützte Aufklärung zu diesem Thema herbeigeführt werden.